Startseite Archiv Nachricht vom 25. Januar 2015

Nigeria: Lutherischer Erzbischof sieht weltweite Solidarität als entscheidend für den Kampf gegen Boko Haram

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(LWI) – Numan (Nigeria)/Genf, 19. Januar 2015 (LWI) – In einem Interview mit der Lutherischen Welt-Information (LWI) hat der nigerianische lutherische Erzbischof Dr. Nemuel A. Babba gefordert, die Christenheit weltweit müsse energischer ihre Stimme gegen die von Boko Haram verübte Gewalt erheben. Weiterhin rief er zur Solidarität auf, mit dem Ziel, Vertrauen und Beziehungen zwischen ChristInnen und MuslimInnen in dem Land wiederherzustellen. Ein Grossteil der Gemeinden der Lutherischen Kirche Christi in Nigeria (LKCN), der Babba vorsteht, ist im Norden des Landes angesiedelt.

Inwiefern ist die Bevölkerung und sind die Kirchen im Nordosten Nigerias direkt von der zunehmenden Gewalt durch Boko Haram betroffen?

Zunächst möchte ich als Leiter der LKCN den zehntausenden Familien im Nordosten – die dem Christentum, dem Islam und anderen Glaubensrichtungen angehören – meine herzliche Anteilnahme aussprechen. Sie haben in der anhaltenden Welle der bewaffneten Angriffe durch Boko Haram - Angriffe auf die Dörfer geliebte Menschen verloren. Die sinnlosen Morde Anfang Januar und die Zerstörung von Häusern, Kirchen, Moscheen, Schulen, Geschäften und Firmen in der Stadt Baga im Bundessstaat Borno haben erneut die Verrohtheit von Boko Haram und die Hilflosigkeit der Bürgerinnen und Bürger Nigerias bewiesen, die nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen.

Wie viele andere christliche und muslimische Gemeinschaften in den Bundesstaaten Borno, Yobe und hier in Adamawa hat die LKCN seit Beginn der bewaffneten Übergriffe durch Boko Haram, mit denen die Gruppe seit 2009 versucht in diesem Landesteil einen islamischen Staat zu schaffen, gewaltige Verluste zu beklagen. Am schwersten betroffen sind die LKCN-Diözesen Arewa und Shall-Holma. Die dortigen Bischöfe waren vor zwei Monaten gezwungen, ihren jeweiligen Amtssitz zu verlassen. Wie auch bei tausenden anderen Vertriebenen wissen wir nicht, wann sie zurückkehren können. Viele lutherische Kirchen und Einrichtungen, wie die Kathedralen in Gombi und Arewa wurden niedergebrannt oder geplündert. In Arewa und Shall-Holma konnten etwa 50.000 Mitglieder unserer Kirche aufgrund der Gewalt keinen lutherischen Weihnachts- oder Neujahrsgottesdienst feiern.

Wie gehen Kirchen und christliche Gemeinden mit den Betroffenen um?

Es gibt zehntausende Binnenvertriebene aus den betroffenen Staaten. Im LKCN-Zentrum in Numan haben wir etwa 500 Flüchtlinge aufgenommen, viele weitere haben in Familien Zuflucht gefunden. Es ermutigt mich, dass viele Mitglieder unserer Kirche wie auch andere Menschen christlichen und muslimischen Glaubens die Türen öffnen für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger, die vor der Gewalt fliehen mussten. Wir wollen keine Flüchtlingslager errichten, sondern mit der örtlichen Verwaltung bei der Hilfe für die akut Bedürftigen zusammenarbeiten und ihre Rückkehr nach Hause unterstützen. Wir mobilisieren weiter die Bevölkerung vor Ort für die Bereitstellung von Lebensmitteln, Wasser und Kleidung – mit überwältigender Resonanz. Auch die Behörden und muslimische Organisationen engagieren sich stark, und stellen beispielsweise Matratzen und Bettzeug zur Verfügung.

Gibt es bei Ihnen ökumenische oder interreligiöse Ansätze zum Engagement für die Betroffenen?

Ja und nein. Ja, denn als Religionsgemeinschaften sind wir uns bewusst, dass die Vertriebenen unsere Hilfe brauchen, und wir alle haben uns dieser Aufgabe nach besten Kräften gestellt. Als Christinnen und Christen haben wir zudem das Bewusstsein der Regierung dafür geweckt, dass aus unserer Sicht die christliche Bevölkerung von Boko Haram speziell bedroht wird. Damit wollen wir nicht leugnen, dass Musliminnen und Muslime angegriffen und getötet werden, aber die höchsten Opferzahlen gibt es auf christlicher Seite.

Warum aber sage ich auch nein? Deshalb, weil mit unseren muslimischen Brüdern und Schwestern kein Dialog über die Absichten und Auswirkungen von Boko Haram stattfindet. Die Existenz dieser militanten Gruppierung hat das Vertrauen zwischen der christlichen und muslimischen Bevölkerung bei uns ausgehöhlt. Das geht so weit, dass wir nicht offen und ehrlich über diesen gemeinsamen Feind reden können.

Wir erleben Schmerzliches in den Familien und dem gesamten Land. Ein Beispiel aus einer der vielen Familien mit christlichen und muslimischen Mitgliedern: Vor kurzem etwa nahm einer von vier christlichen Brüdern seine Schwester, eine Muslima, in sein Haus auf, weil sie und ihre Familie vor den Angriffen geflohen waren. Aber binnen weniger Tage bat er sie, sich eine andere Bleibe zu suchen, weil er ihre offene Kritik und Geringschätzung von Menschen christlichen Glaubens nicht ertragen konnte. Ihre Kinder wohnen weiter bei ihrem christlichen Onkel und seinen Kindern. Wie sollen wir solche Beziehungen heilen und wiederherstellen, wo eine „Hüterin ihres Bruders“ wegen radikaler religiöser Ideale buchstäblich zur Peinigerin ihres Bruders wurde? Wir können manchen unserer muslimischen Brüder und Schwestern nicht mehr vertrauen, weil wir nicht wissen, ob sie ehrlich sind, wenn sie davon sprechen, dass sie Boko Haram ablehnen. Eine ähnliche Dynamik ist in der Regierung, in den politischen Parteien und den Streitkräften zu beobachten. Unsere Feinde sind nigerianische Mitbürgerinnen und Mitbürger und es ist äusserst schwierig, einen solchen Feind zu bekämpfen und in diesem multireligiösen, ethnisch vielfältigen Staat und in seinen Familien das Vertrauen wiederherzustellen.

Wie können die lutherische Kirchengemeinschaft und die weltweite Christenheit ihre Solidarität zeigen?

Es muss gesagt werden, dass die nigerianischen Christinnen und Christen Wut empfinden, denn wir sind von Boko Harams Gräueltaten am schwersten betroffen. Wir hören unsere Mitchristen und -christinnen weltweit nicht laut und energisch genug diesen Terrorismus verurteilen, der diejenigen unter uns trifft, die im Nordosten leben. Mutig unsere Solidarität zu leben, das ist etwas, was Christinnen und Christen weltweit lernen müssen. Wir haben den Eindruck, dass nicht nachdrücklich genug darauf gedrängt wird, dem von Boko Haram verübten Terrorismus ein Ende zu setzen.

Aktuell ist auch nicht der Moment, den üblichen Ansatz für den interreligiösen Dialog in Nigeria weiterzuführen, obwohl er einen positiven Beitrag zum sozialen Zusammenhalt im Land geleistet hat. Angesichts der Tatsache, dass alle damit beschäftigt sind, die eigene Religion zu verteidigen, müssen wir einen Schritt weitergehen, über die Verfassung von Konferenzdokumenten zum Thema Koexistenz hinaus. Wir müssen kritisch hinterfragen und offen darüber reden, wie die Beziehungen zwischen christlicher und muslimischer Bevölkerung aussehen und diese harten Fakten und entsetzlichen Tatsachen auf den Tisch legen. Dazu brauchen wir die Solidarität der weltweiten Christenheit.

Auf welche Weise kann die internationale Politik hilfreich tätig werden?

Als nigerianische Christen und Christinnen sind wir uns der vielen Stimmen überall bewusst, die die von Boko Haram verübten Gräuel thematisieren. Wir kennen aber auch die Geschichte vergangener Bürgerkriege in diesem Land: Politiker, die von der Wählerschaft zurückgewiesen wurden, verlegten sich darauf, das Land durch bewaffnete Aufstände unregierbar zu machen. Als Christinnen und Christen treten wir für den Frieden ein, aber wir können auch nicht einfach tatenlos zusehen, wie die Unseren sinnlos hingemetzelt werden. Wir sind Bürger und Bürgerinnen dieses Landes und wir können nicht weiter Hals über Kopf vor Boko Haram davonlaufen. Wir haben das Recht, uns zu verteidigen, und wenn es zum Schlimmsten kommt, dann kann die Alternative zum Frieden nur katastrophal ausfallen in einem Land mit einer Bevölkerung von über 170 Millionen Menschen.

Trotz ihrer Schwächen versucht die nigerianische Regierung ihr Möglichstes, der Gewalt ein Ende zu setzen, aber sie braucht die Ermutigung und echte Unterstützung der Völkergemeinschaft. Weil wir Frieden ersehnen, besonders im Vorfeld der landesweiten Wahlen im Februar, mahnen wir die Völkergemeinschaft erneut zur Unterstützung.

Insbesondere bitten wir den LWB und die gesamte lutherischen Kirchengemeinschaft, weiterhin für uns zu beten.

[Erzbischof Dr. Nemuel A. Babba steht der LCKN vor, der über 2,2 Millionen Menschen in neun vorwiegend nordnigerianischen Diözesen angehören. Sie ist eine von zwei LWB-Mitgliedskirchen in Nigeria und trat der lutherischen Kirchengemeinschaft 1961bei.]