Martin Thaler geht nicht regelmäßig in die Kirche. Ich denke, Martin ist ein ziemlicher Skeptiker. Wenn er doch mal in der Kirche sitzt, dann zu Weihnachten. Trotzdem – man könnte nicht schöner und zutreffender über das sprechen, was christlichen Glauben ausmacht, als von diesem Jungen. Martin Thaler ist ungefähr 13 Jahre alt und der Held meiner Jugend.
Dabei ist er arm dran. Seine Eltern haben keine Arbeit und kein Geld. Deshalb haben sie ihn mithilfe eines Stipendiums in ein Internat gegeben. Dort soll ein Theaterstück aufgeführt werden. Weil Martin gut malen kann, hat er das Bühnenbild gemacht für „Das fliegende Klassenzimmer“. Nach der Aufführung möchte er eigentlich nur nach Hause fahren und dort Weihnachten feiern und mit seinen Eltern in die Kirche gehen. Aber: Ihm fehlt das Geld für die Fahrkarte. Martins Freunden im Internat geht es auch nicht besser als ihm. Johnny ist ein einsames Waisenkind, Matthias ist schwer von Begriff und ziemlich verfressen, Uli ist klein und ängstlich, Sebastian Frank ist streberhaft und kompliziert. Keine strahlende Mischung. Es sind Kinder, die nicht reinweg glücklich sind. Wie könnte ein erwachsener Mensch seine Jugend so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder zuweilen sein können?
Gerade deshalb – und weil in den Kinderzimmern dieser Schrecken zu allen Zeiten lauert – gerade deshalb ist Martin Thaler ein Held. Er will sein eigenes Leben aushalten, auch das Traurige darin. „Eisern!“ rufen die Jungs einander immer zu. Dafür nutzt er wie ein Bollwerk die größten Werte, die er in sich trägt. Denn Martin ist aufrichtig, standfest, er kann zurückstecken und hat andere mit im Blick. Mir scheint immer, dass er neben seinen Qualitäten noch von etwas anderem geleitet, getragen und angeschoben wird, von einer stark spürbaren Hoffnung. Und von der Erwartung, einer, ja, Erlösung, die nicht in seinen Händen liegt und die das Schwere nicht wegwischt. Ich kann mir denken, dass Martin keine Sprache dafür hat, aber eine Ahnung. Deshalb zu Weihnachten der Kirchgang.
Erich Kästner hat „Das Fliegende Klassenzimmer“ 1933 als Utopie geschrieben, als moralistischen Gegenentwurf zu einer Zeit, in der sich nicht nur Realschüler und Gymnasiasten geprügelt haben. Aber Kinder spüren das Zeitlose daran. Den Mut, für andere einzustehen. Und Freundschaft, die aus Treue, Tapferkeit und Gemeinschaftsgefühl besteht.
Amen.
Micha 6,8