Startseite Archiv Bericht vom 11. Juni 2002

Historische Entwicklung der konfessionellen Bünde und die möglichen Folgen von Strukturveränderungen

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Historische Entwicklung der konfessionellen Bünde und die möglichen Folgen von Strukturveränderungen

von Christoph Markschies (Heidelberg)

Vortrag vor der Landessynode der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers am 12.6.2002

Herr Synodalpräsident, Frau Landesbischöfin, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, es gibt seit einigen Monaten wohl kaum ein Thema, über das innerhalb unserer evangelischen Kirchen so heftig gestritten wird wie über den Sinn und die Zukunft der konfessionellen Zusammenschlüsse innerhalb der EKD, oder vielleicht präziser: über das diejenigen, die in Kirchenleitungen und Synoden Verantwortung tragen, so erbittet streiten wie über eben dieses Thema. Seit Präsident von Vietinghoff im Januar diesen Jahres vorgeschlagen hat, die konfessionellen Zusammenschlüsse der EKD – also die „Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands“ (VELKD), die gerade im Gründungsprozeß befindliche „Union Evangelischer Kirchen in der EKD“ (UEK) und den „Reformierte Bund“ – in Arbeitsformen innerhalb der EKD zu transformieren, haben sich nicht nur viele Einzelpersonen, sondern auch größere Gremien und Zusammenschlüsse mit teils begeisterten, teils kritischen Kommentaren zu Wort gemeldet. Auch wenn vielleicht die eine oder der andere die Heftigkeit der Auseinandersetzungen beklagen mag – wenn wir gemeinsam über die theologische Identität unserer Kirchen nachdenken und die dieser theologischen Identität angemessene Organisationsstruktur, dann sind wir ganz bei der Sache, um die es in der Kirche geht, und über diese Sache darf ruhig auch gestritten werden.

Nun haben Sie einen Kirchenhistoriker eingeladen und gebeten, über die Geschichte derjenigen konfessionellen Zusammenschlüsse zu sprechen, deren Sinn und Zukunft gerade so heftig debattiert wird. Ein solcher Blick in die Vergangenheit könnte dabei helfen, die gegenwärtigen Diskussionen ein Stück weit zu versachlichen, weil auf diese Weise deutlich wird, aus welchen spezifischen Gründen man seit dem neunzehnten Jahrhundert in Deutschland solche Zusammenschlüsse bildete und wie sich seit jener Zeit die Situation auch gewandelt hat. Eine knappe und auf unser aktuelles Problem konzentrierte Nachzeichnung der Geschichte wird daher auch den ersten Teil meiner Ausführungen bilden. Freilich bin ich auch gebeten worden, über die möglichen Folgen von Strukturveränderungen zu sprechen, die derzeit debattiert werden – und muß angesichts dieser Bitte natürlich sofort bekennen, daß ich für das Amt des Propheten so viel – oder vielleicht besser: so wenig – wie die allermeisten anderen hier im Raum qualifiziert bin. Deswegen werde ich mich hüten, heute allzulange öffentlich darüber zu grübeln, ob eine strukturell veränderte EKD unter den vermutlich sehr schwierigen Rahmenbedingungen kommender Jahre und Jahrzehnte nicht deutlich besser Anliegen des christlichen Glaubens in die allgemeine Öffentlichkeit hinein tragen kann, ihrem Verkündigungsauftrag also besser gerecht wird: Für solche Blicke in die Zukunft sind natürlich die weit besser qualifiziert, die tagtäglich mit dem einschlägigen statistischen Material hantieren oder jedenfalls größere Öffentlichkeiten ansprechen, als das nun ausgerechnet ein Kirchenhistoriker zu tun pflegt. Freilich wird in der gegenwärtigen Auseinandersetzung immer wieder über eine mögliche Folge der diskutierten Strukturveränderungen gestritten, zu der ich heute Stellung nehmen werde, weil ich denke, daß ein Kirchenhistoriker aufgrund seiner spezifischen Kenntnisse dazu Stellung nehmen kann: Immer wieder ist zu lesen, daß ein Wegfall der bisherigen konfessionellen Zusammenschlüsse – präziser: ihre vorgeschlagene Transformation – die Geltung der reformatorischen Bekenntnisse und damit die Bedeutung des lutherischen Bekenntnisses insgesamt beschädigen könne. Vor allem an diesem neuralgischen Punkt fallen gegenwärtig harsche Worte und er verdient ja auch alle Aufmerksamkeit: Schließlich sind die grundlegenden Bekenntnisse unserer evangelischen Landeskirchen ja nicht nur steinalte Texte, in denen unsere Vorfahren sich in Abgrenzung zu anderen Positionen, Bindungen und Maßstäben zu einem bestimmten Verständnis des Evangeliums bekannten, sondern sollen und können heute noch Menschen darüber orientieren, wie ihr Leben gelingen kann und was Maßstäbe für gelingendes Leben und Sterben sein können. Ich werde daher am Ende meines Vortrags die Frage stellen, wodurch diese lebensorientierende Kraft der alten Bekenntnisse – die sie ja erst zu unserem eigenen aktuellen Bekenntnis heute macht – in unseren Kirchen sichtbar, erlebbar gemacht werden kann und welche Rolle bei diesem Prozeß der Sichtbarmachung die konfessionellen Zusammenschlüsse spielen. Außerdem werde ich versuchen, einige theologische Kriterien zu formulieren, die aus meiner Sicht für mögliche Strukturveränderungen von Bedeutung sind. Ich gehe so vor, daß ich im Folgenden meinen Ausführungen Thesen voranstelle und diese dann kommentiere und beginne, wie angekündigt, mit Bemerkungen zur Geschichte.

(1) Die gegenwärtige Gestalt der konfessionellen Bünde innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland setzt die Realitäten des konfessionellen Zeitalters voraus und versuchte diese zugleich zu überwinden. Wohl gab es seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine wachsende Kooperation aller deutschen Kirchenregierungen, aber bis 1936 keinen separaten Zusammenschluß der lutherischen Landeskirchen im deutschen Sprachraum.

Die Vorgeschichte der heutigen konfessionellen Bünde innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland beginnt im neunzehnten Jahrhundert, aber man versteht sie eigentlich nicht, wenn man nicht auf die spezifischen Bedingungen der Reformation im Alten Reich, dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und die besonderen Umstände des sogenannten „konfessionellen Zeitalters“ schaut. Vermutlich erwähne ich Altbekanntes, wenn ich daran erinnere, daß im Zuge der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts und dem folgenden Glaubenswechsel einzelner lutherischer Landesfürsten zum reformierten Glauben in der frühen Neuzeit die verschiedenen lutherischen und reformierten evangelischen Landeskirchen entstanden waren, dazu auch die berühmten Sonderfälle, in denen ein reformierter Landesherr nominell einer lutherischen Landeskirche oder sogar ein katholischer Landesherr einer lutherischen Landeskirche als oberster Bischof, als summus episcopus, vorstand. Nach dem Zerbrechen der verschiedenen traditionellen Kirchenzusammenschlüsse vorreformatorischer Zeiten waren diese vielen verschiedenen „Landeskirchen“ gleich stark geprägt von einem bestimmten deutschen Territorium samt seinem spezifischen Fürstengeschlecht und einem Bekenntnis, das diese regionale Prägung transzendierte. Um solche Details, die bis heute die Landkarte der Gliedkirchen der EKD prägen, zu kennen oder gar zu verstehen, reicht in aller Regel ein einzelner Kirchenhistoriker überhaupt nicht aus: Warum es beispielsweise bis 1920 in der thüringischen Landschaft Reuß zwischen Gera, Greiz und Schleiz wohl einen einheitlichen lutherischen Bekenntnisstand auf der Basis zweier Texte des sechzehnten Jahrhunderts gab, aber trotzdem zwei Landeskirchen Reuß – nämlich eine Landeskirche Reuß ältere und eine Landeskirche Reuß jüngere Linie –, weiß man vermutlich nur, wenn einen die Geschichte dieser Landschaft besonders interessiert. Aber dann hat man noch nicht verstanden, warum die Landeskirche Reuß jüngere Linie schon 1920, Reuß ältere Linie dagegen erst kurz nach dem vierhundertjährigen Reformationsjubiläum 1934 in die neue gemeinsame „Thüringer Evangelische Kirche“ eintrat, obwohl deren lutherischer Bekenntnisstand nach vielen Debatten so offen formuliert war, daß in den einschlägigen Verfassungstexten kein einziger konkreter Bekenntnistext genannt war und schon gar nicht die zwei, die in den beiden Reuß eigentlich in Geltung standen . Wie die Verhältnisse in den zunächst fünf weitgehend unabhängigen „Landschaftskirchen“ Hannovers vor 1866 und danach gestaltet waren , wissen Sie als Synodale dieser Landeskirche vermutlich weit besser als ein Heidelberger Kirchenhistoriker.

Interessanterweise gab es in diesem bunten Flickenteppich konfessionell geprägter Landeskirchen bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein keinerlei konfessionsspezifische Bünde oder Vertretungen – die Versuche von Universitätstheologen seit dem sechzehnten Jahrhundert, die vielen verschiedenen lutherischen Kirchen im Blick auf das Bekenntnis und die Theologie zu einen, blende ich hier aus . Anstelle von konfessionsspezifischen Bünden existierte zweihundertfünfzig Jahre lang nur eine lockere politische Verbindung aller evangelischen Reichsstände auf dem immerwährenden Reichstag zu Regensburg. Ungeachtet aller heftigen Auseinandersetzungen zwischen reformierten und lutherischen Theologen versammelten sich seit 1653 bis 1806 unter Führung Kursachsens die Vertreter lutherischer wie reformierter Territorien im sogenannten Corpus Evangelicorum. Dahinter verbarg sich nicht mehr als eine Gesprächsrunde mit unklarem verfassungsrechtlichen Status. Nachdem Versuche seiner Wiederbelebung nach 1815 aus naheliegenden Gründen gescheitert waren – schließlich gab es die politische Ordnungsgestalt des Alten Reiches ja gar nicht mehr – , standen die meisten Initiativen im Zeichen eines Jahrhunderts der nationalen Einigung: Seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts unternahmen sowohl die diversen staatlichen Kirchenregierungen wie Privatpersonen auf Vereinsbasis Versuche, wenn schon keine deutsche Nationalkirche, so doch wenigstens eine engere Kooperation der vielen Landeskirchen zu erreichen. Diese Arbeitskontakte der Kirchenbehörden aller deutschen Staaten führten auf eine Vorform der heutigen EKD, die 1852 gegründete „Deutsche Evangelische Kirchenkonferenz“, die nach ihrem Tagungsort „Eisenacher Konferenz“ genannt wurde und sich schließlich nach dem ersten Weltkrieg in einen „Deutschen Evangelischen Kirchenbund“ umbildete. In unserem Zusammenhang sind an dieser Stelle keine Details interessant, sondern nur die Feststellung, daß es neben dieser Institution, die in sehr loser Form lutherische, unierte und reformierte Kirchen vereinigte, bis 1936 keinen separaten institutionellen Zusammenschluß der lutherischen Landeskirchen gab. Zu den Erfolgen der „Eisenacher Konferenz“ gehören aber viele bis heute das kirchliche Leben tief prägende Vereinheitlichungen der bunten landeskirchlichen Wirklichkeiten: die Einführung einer neuen Perikopenordnung, eines terminlich festgelegten Buß- und Bettages, die Propagierung von Bibelstunden und Kindergottesdienst, die Revision der Lutherbibel und Vorschläge für den Kirchenbau.

Versuche, einen separaten Zusammenschluß lutherischer Landeskirchen zu realisieren, gab es freilich: Seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wendeten sich einige lutherische Theologen mit aller Energie gegen jede Tendenz einer deutschen Nationalkirche, weil sie – durchaus nicht ganz grundlos – zum einen hinter mancher kirchenpolitischen Initiative aus Preußen den verkappten Versuch einer weiteren Ausbreitung der altpreußischen Union daherkommen sahen. Zum anderen verband sich mit der Idee einer Nationalkirche das umstrittene liberale Programm eines „milden“ Umgangs mit den alten Gegensätzen zwischen Lutheranern und Reformierten . Die Versuche, dagegen eine streng lutherisch geprägte deutsche Nationalkirche zu errichten oder wenigstens die lutherisch geprägten Landeskirchen in Deutschland zu sammeln, wurden allerdings zunächst nicht von den Kirchenregierungen der lutherisch geprägten Territorien, sondern im Wesentlichen von Universitätsprofessoren und Pfarrern neulutherischer Prägung organisiert . So fanden zunächst zwei „Konferenzen von Gliedern und Freunden der lutherischen Kirche“ in den Jahren 1843 und 1844 statt und von 1868 bis 1930 21 Tagungen der „Allgemeinen (Evangelisch-)Lutherischen Konferenz“ . Auch wenn die recht große Zahl von Teilnehmern solcher Konferenzen versuchte, in Form eines privaten Vereins die landeskirchliche Zersplitterung zu überwinden und sich immer stärker auch Vertreter der Kirchenregierungen beteiligten, war diesen Unternehmungen im Gegensatz zu der konfessionsübergreifenden Institution der Eisenacher Kirchenkonferenz zunächst kein größerer institutioneller Erfolg beschieden. Das lag nicht zuletzt daran, daß das theologische Programm der Konferenzen, das sogenannte „Neuluthertum“, in den lutherischen Landeskirchen gar nicht mehrheitsfähig war: Neulutherische Theologen wie Harleß oder Kliefoth wollten, etwas vereinfacht gesagt, den lutherischen Bekenntnissen des sechzehnten Jahrhunderts eine gewisse Offenbarungsqualität zuschreiben und verwischten auf diese Weise den kategorialen Unterschied zwischen dem einen Wort Gottes und den menschlichen Bekenntnissen – man spricht daher auch von „Konfessionalismus“ und dieser Konfessionalismus des Neuluthertums traf auf entschiedenen Widerstand verschiedener anderer theologischer Richtungen in den lutherischen Landeskirchen . Auch die erwähnte „Allgemeine (Evangelisch-)Lutherische Konferenz“ tagte teilweise mit langen Abständen, blieb eine freie Organisation und wurde kein Kirchenbund. Vielmehr verwandelte sie sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht zuletzt durch die Beteiligung von skandinavischen lutherischen Bischöfen zu einem europäischen und dann internationalen Einigungswerk, dem Ursprungskern des heutigen „Lutherischen Weltbundes“ . In Deutschland waren die Auswirkungen dieses Einigungswerks gering. Erst am Ende der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts kam es nicht zuletzt durch die Initiative der Hannoverschen Landeskirche zu unregelmäßigen Kontakten zwischen norddeutschen lutherischen Kirchenämtern, auch tagte seit 1927 eine ‚Deutsche Lutherische Bischofskonferenz’ .

Das institutionelle Programm dieser lutherischen Einigungsbestrebungen seit den neulutherischen Konferenzen des neunzehnten Jahrhunderts war „eine deutsche Gesamtkirche Augsburgischer Konfession“ . Dieses Ziel ließ sich zwar, wie wir sahen, damals und auch später nicht realisieren, taucht aber seither immer wieder in den Debatten um die organisatorische Gestalt der evangelischen Kirchen in Deutschland auf, zuletzt in einem Beitrag des leitenden Bischofs der VELKD, Hans-Christian Knuth, aus dem vergangenen Monat. Knuth möchte zwar eigentlich an der VELKD festhalten, deutet aber in seinem Beitrag die Möglichkeit an, die EKD in eine „Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses mit einer reformierten (und möglicherweise einer unierten Klasse) umzugestalten und dafür die VELKD aufzugeben .

(2) Die gegenwärtige Struktur des deutschen Protestantismus mit einem überkonfessionellen Zusammenschluß aller evangelischen Kirchen von nicht restlos geklärter ekklesiologischer Qualität und daneben bestehenden konfessionellen Bünden mit ekklesiologischem Status repräsentiert den Bekenntnisstand der evangelischen Kirchen in Deutschland unmittelbar nach 1945. Es ist nämlich nicht wirklich gelungen, institutionelle Konsequenzen aus der theologischen Neubestimmung des Verhältnisses der drei Konfessionen nach 1957 und 1974 zu ziehen. In der ehemaligen DDR war vor 1989 der Versuch, solche Konsequenzen zu ziehen, theologisch wie institutionell weiter fortgeschritten als im Westen Deutschlands. In der Anfangsphase der Reformdebatte der siebziger Jahre hatte die VELKD durchaus die Funktion eines Schrittmachers der Debatte.

Die gegenwärtige Struktur der EKD geht auf einen mühsam ausgehandelten Kompromiß des Jahres 1948 zurück, dessen Genese zuletzt der verstorbene Tübinger Kirchenhistoriker Joachim Mehlhausen in seinem Vortrag zum fünfzigjährigen Jubiläum der Grundordnung der EKD 1998 in Eisenach sensibel nachgezeichnet hat . Man verwarf damals nach heftigen Auseinandersetzungen die Idee, die neue EKD konfessionell einheitlich als lutherische Bekenntniskirche zu prägen. Für dieses Programm stand in Eisenach vor allem der bayerische Bischof Hans Meiser; dieses Programm prägte sein Handeln in den vergangenen Jahren nationalsozialistischer Herrschaft. Meiser hatte seit 1933 gemeinsam mit anderen, darunter Paul Fleisch und August Marahrens aus Hannover, versucht, die lutherische Identität innerhalb der damals gebildeten „Deutschen Evangelischen Kirche“ durch einem eigenen lutherischen Zweig, eine fest etablierte institutionelle Kooperation lutherischer Kirchen auszubauen . Gegen die staatliche privilegierte „Machtergreifung“ der Deutschen Christen und später dann des Neuheidentums setzte Meiser auf einen organisatorischen Zusammenschluß der lutherischen Landeskirchen auf der Grundlage des lutherischen Bekenntnisses und verstand auch so seine Zustimmung zur „Theologischen Erklärung“ der Bekenntnissynode von Barmen aus dem Jahre 1934. Die näheren Schritte auf diesem Wege – der 1934 begründete „Lutherische Rat“, der 1935 abgeschlossene „Lutherische Pakt“, der synodale „Deutsche Lutherische Tag“ im selben Jahr 1935 und schließlich die Bildung eines „Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands“ 1936 – brauchen uns heute im Detail nicht zu interessieren. Sie zeigen allerdings, daß die im sogenannten „Kirchenkampf“ gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik erfolgte Neubesinnung der ganzen evangelischen Kirche und Theologie auf die Bekenntnisse der Reformationszeit eine wichtige, vielleicht sogar die eigentliche Voraussetzung für die konfessionellen Bünde der Nachkriegszeit war. Mindestens ebenso wichtig ist, daß mit dem „Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands“, dem sogenannten „Lutherrat“, zwar 1936 das alte Ziel einer gemeinsamen Leitung aller lutherischen Landeskirchen nun endlich erreicht worden war – freilich um den bitteren Preis eines Leitungsschismas innerhalb der bekennenden Kirche zwischen einer bruderrätlichen vorläufigen Kirchenleitung und dem erwähnten „Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands“, dem sogenannten „Lutherrat“. Der ersten vorläufigen Kirchenleitung der Bekennenden Kirche, die bis zu jenem Leitungsschisma von 1934 bis 1936 amtierte, hatten unter dem Vorsitz von Marahrens noch zwei lutherische Theologen angehört.

Diese beiden Konzeptionen des Lutherrates einerseits und einer überkonfessionellen bruderrätlichen Leitung andererseits standen sich – repräsentiert durch Meiser und Niemöller – auch 1948 in Eisenach gegenüber. Dort wurde im Interesse der Einheit freilich nach langem Ringen entschieden, die EKD weder im Sinne Niemöllers von unten her langsam als eine lose Gemeinschaft bekennender Gemeinden aufzubauen noch im Sinne Meisers von oben her als „Deutsche Lutherische Kirche“ mit einer reformierten Klasse zu gestalten. Weil weder die unierten Landeskirchen ihre spezifische Identität aufgeben wollten und nicht wieder in reformierte bzw. lutherische Kirchenkreise zerfallen wollten noch die reformierten Kirchen einfach unter dem großen Dach einer lutherischen Kirche einen eigenen Raum beziehen wollten, setzte sich ein anderes Modell durch. Es war das kirchliche Einigungswerk des württembergischen Landesbischofs Wurm, das die neue Grundordnung der EKD prägte und dem auch die Vertreter des Lutherrates in Eisenach schließlich nach einem denkwürdigen Ultimatum Wurms zustimmten : Die EKD wurde als ein „Bund lutherischer, reformierter und unierter Kirchen“ (GO 1948 Art. 1), also als Bund bekenntnisverschiedener Landeskirchen strukturiert, der selbst nicht beanspruchte, Kirche zu sein, obwohl sich der Bund im selben Artikel der Grundordnung zugleich auch als „bekennende Kirche“ bekannte . Kirche im eigentlichen Sinne des Wortes konnte die EKD 1948 vor allem deswegen nicht sein, weil zwischen ihren Gliedkirchen keine Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft bestand. Vor allem die Unterschiede im Verständnis und in der Praxis des Abendmahls empfanden viele engagierte Theologen als kirchentrennend. [[Aus der Ratsvorlage für die Grundordnung strich man sogar in der endgültigen Fassung den Satz heraus, daß sich alle Gliedkirchen „in dem Gebet“ einig seien, „daß der Herr der Kirche einmal allen ihren Gliedern volle und wahre Abendmahlsgemeinschaft schenken möchte“ (GO 1948 Art. 4,4) – offenbar hielten eine ganze Anzahl von Teilnehmern in Eisenach die Überwindung der einschlägigen Gegensätze des sechzehnten Jahrhunderts in unmittelbarer Zukunft für utopisch]]. Von den aus heutiger Perspektive leicht absurden praktischen Konsequenzen dieser Situation können ältere Gemeindeglieder noch erzählen: Reformierte Pfarrer warnten in den fünfziger Jahren vor dem als „Baalsdienst“ abqualifizierten Gottesdienst der Lutheraner, lutherische Pastoren im Gegenzug ihre Gemeindeglieder vor dem Besuch von Kirchentagen, da man schließlich im allgemeinen Trubel nicht sicher sein könne, von einem lutherischen Pfarrer das Abendmahl gereicht zu bekommen.

Folgerichtig war es angesichts der fehlenden Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen den Gliedkirchen auch, daß man nach 1945 die seit dem neunzehnten Jahrhundert erstrebten nationalen Kirchenzusammenschlüsse nun auf der Basis der drei unterschiedlichen evangelischen Konfessionen realisierte – schließlich hatte sich im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialismus und Kirchen nach 1933 die Erkenntnis durchgesetzt, daß die evangelische Kirche „echte kirchliche Einheit ... nur auf dem Wege gewinnen kann, daß sie ihre reformatorischen Bekenntnisse wahrt und einen organischen Zusammenschluß der Landeskirchen und Gemeinden auf der Grundlage ihres Bekenntnisses fördert“. So hatte 1934 die Bekenntnissynode von Barmen in ihrer heute nur noch wenig bekannten „Erklärung zur Rechtslage“ formuliert und sich damit bewußt von der damals gerade einmal vor dreißig Jahren zu Ende gegangenen Epoche des landesherrlichen Kirchenregiments distanziert, die zwischen Verwaltung und Bekenntnis der Kirche nicht selten strikt trennte . Die Mitglieder des Lutherrates zogen aus diesem allen gemeinsamen Erbe des sogenannten „Kirchenkampfes“ den Schluß, im Juli 1948 die „Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche in Deutschland“ (VELKD) zu konstituieren. Etwas länger dauerte es, bis sich aus den Trümmern der unierten Landeskirche im zerschlagenen Preußen eine Kirchengemeinschaft selbständiger Landeskirchen, die „Evangelische Kirche der Union“ (EKU), konsolidierte. Die reformierten Kirchen und Gemeinden blieben interessanterweise bei ihrem privatrechtlichen Zusammenschluß aus dem neunzehnten Jahrhundert, dem 1884 entstandenen „Reformierten Bund“ . Freilich hofften damals nicht wenige, die drei konfessionellen Bünde nach dem Abschluß erfolgreicher Lehrgespräche bald in drei konfessionelle Klassen einer einzigen deutschen evangelischen Kirche überführen zu können. Der Lutherrat bot schon im Vorfeld der Gründung der VELKD 1946 ein theologisches Gespräch zu den „Möglichkeiten einer Abendmahlsgemeinschaft über den Kreis der VELKD hinaus“ an . Und wie eine Vorwegnahme gegenwärtiger Debatten um das Schicksal der VELKD wirkt es, wenn ebenfalls schon 1946 der spätere Präsident der EKD-Kirchenkanzlei und des Lutherischen Kirchenamtes, Heinz Brunotte, nicht nur seine Erwartung formuliert, „daß wir heute oder morgen in der Abendmahlslehre auf Grund der exegetischen Weiterentwicklung der neutestamentlichen Abendmahlsforschung seit Luther zu einem anderen Ergebnis als 1529 kommen“ (als im Marburger Religionsgespräch Zwingli und Luther sich nicht über ein gemeinsames Verständnis einigen konnten). Brunotte empfiehlt nämlich weiter, die „leitenden Organe der Vereinigten Lutherischen Kirche in die leitenden Organe der EKD einzubauen, derart, daß die Abgeordneten der Generalsynode der EKD, die aus lutherischen Kirchen entsandt werden, zugleich in Fragen der lutherischen Lehre die lutherische Synode darstellen; daß die lutherischen Mitglieder des Rates zugleich Kirchenleitung der Vereinigten Lutherischen Kirche sind; und daß die Kirchenkanzlei personell so besetzt ist, daß die Sachbearbeiter bei bestimmten Fragen eine ‚itio in partes’ vornehmen können und die lutherischen Räte der Kirchenkanzlei zugleich die lutherische Kirchenkanzlei darstellen“ .

Obwohl man sich 1948 nicht auf eine Abendmahlsgemeinschaft zwischen den Gliedkirchen hatte einigen können, waren schon vorher Bemühungen in Gang gekommen, die als kirchentrennend empfundenen konfessionellen Lehrgegensätze zum Gegenstand von Gesprächen zu machen, um so im gemeinsamen Ringen um eine stärkere Einheit der EKD voranzukommen. Die Kirchenkanzlei der EKD hatte schon 1947 zu einem Lehrgespräch über das Abendmahl eingeladen, um auf diese Weise dem wichtigsten kirchentrennenden Gegensatz zwischen den evangelischen Konfessionen eben diese kirchentrennende Dimension zu nehmen. Drei wesentliche Gründe für den erstaunlichen Optimismus, solche Lehrgespräche nach vier Jahrhunderten der Auseinandersetzung und der Vergleichgültigung der Gegensätze zu versuchen, möchte ich in unserem Zusammenhang nennen: Da war zuerst die Bereitschaft, sorgfältig zu arbeiten und sich dafür Zeit zu nehmen. Otto Dibelius, der Berliner Bischof, schloß seine Predigt im Eisenacher Eröffnungsgottesdienst 1948 mit den Worten: „Die Kirche kann warten. Nur der Teufel hat es eilig“ . Entsprechend dauerte das Abendmahlsgespräch auch fast zehn Jahre. Der zweite Grund für den erstaunlichen Optimismus war ein neues Vertrauen auf die einheitsstiftende Kraft der Bibel und die Fähigkeit der damaligen neutestamentlichen Wissenschaft, diese Kraft über die jeweiligen konfessionellen Kontexte hinaus zur Geltung zu bringen. Den dritten Grund bildeten die vielfältigen Erfahrungen neuer Gemeinschaft über die evangelischen Konfessionsgrenzen hinweg, die die Auseinandersetzungen mit dem totalitären Staat nach 1933 gebracht hatten: Man konnte sich als Lutheraner einer reformierten Bekenntnis-Gemeinde am Ort näher fühlen als der eigenen Deutsch-Christlichen Ortsgemeinde. [[Keiner der drei Gründe für sich genommen hätte die gemeinsame Arbeit am Thema „Abendmahl“ allein zum Erfolg bringen können: Im Juni 1949 wurde von einigen Mitgliedern der EKD-Synode überlegt, auf dem nächsten Treffen einen gemeinsamen Abendmahlsgottesdienst zu feiern; der Berliner Politikwissenschaftler Otto Heinrich von der Gablentz, ein Mitglied des Kreisauer Kreises, formulierte den entsprechenden Brief an alle Synodalen. Gablentz schlug vor, zur Behebung der konfessionellen Spannungen innerhalb der EKD ein gemeinsames Abendmahl zu feiern . Der damalige Vizepräsident des Kirchenamtes der VELKD erinnerte dagegen in seiner zurückhaltenden kritischen Antwort an die Notwendigkeit, vor der gemeinsamen Feier erst die anstehenden theologischen Fragen zu klären – auch dieses Argument wirkt im Blick auf den gemeinsamen Berliner Kirchentag im nächsten Jahr außerordentlich aktuell – und wies daraufhin, daß man die Notsituationen der Kriegszeit nicht zu einer allgemeinen Praxis erheben dürfe ]].

Das geduldige Warten und Arbeiten in der ersten Abendmahlskommission der EKD hatte sich gelohnt: 1957 gelang es dieser Gruppe von zwanzig Professoren aus allen drei evangelischen Konfessionen im Auftrag der EKD, gemeinsam acht Thesen über das Abendmahl zu formulieren, die nach dem Tagungsort so genannten „Arnoldshainer Abendmahlsthesen“. Auf der Basis einer sorgfältigen Auslegung der neutestamentlichen Texte und unter Verwendung einer Kompromißformel aus der Reformationszeit konnten Lutheraner, Reformierte und Unierte gemeinsam formulieren, daß sich „der gekreuzigte und auferstandene Herr ... in seinem für alle in den Tod gegebenen Leib und seinem für alle vergossenen Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein von uns nehmen“ läßt .

Obwohl durch diese Lehrkonkordie im Grunde schon deutlich geworden war, daß lutherische, reformierte und unierte Kirchen soviel gemeinsam über das Abendmahl sagen konnten, daß sie guten Gewissens miteinander Abendmahlsgottesdienste hätten feiern können und das Abendmahl damit seine kirchentrennende Dimension im Protestantismus verloren hatte, wurde das Arnoldshainer Papier von den Gliedkirchen und Konfessionsbünden zunächst doch recht zögerlich aufgenommen. Der Versuch, auf seiner Basis Abendmahlsgemeinschaft zwischen den Gliedkirchen zu erklären, scheiterte zunächst. Vor allem die lutherischen Kirchen wiesen darauf hin, daß Abendmahlsgemeinschaft Kirchengemeinschaft voraussetze, diese aber die Feststellung eines umfassenden Lehrkonsenses . Wie sensibel das Thema nach wie vor war, zeigte sich 1968, als ein lutherisch-reformiertes Lehrgespräch von Seiten der VELKD abgesagt wurde, weil der rheinische Präses Joachim Beckmann vor seinem Beginn ein Angebot zur sofortigen Erklärung der Abendmahlsgemeinschaft in der EKD unterbreitet hatte . Freilich brachen die starren Fronten bald auseinander, nicht zuletzt wegen der starken gesellschaftlichen Veränderungen in jenen Jahren, die in ganz ungeahnter Weise von den Kirchen ein gemeinsames Zeugnis verlangten, aber auch neue Fronten schufen. Die Schritte auf dem Weg zur vollständigen Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft brauche ich in unserem Zusammenhang nur durch Stichworte in Erinnerung zu rufen: 1969 erklärten 16 unierte und lutherische Gliedkirchen der EKD, die sich 1967 zu einer „Arnoldshainer Konferenz“ zusammengeschlossen hatten, einander die volle Abendmahlsgemeinschaft. Diese Kirchen beriefen sich dabei auf die Arnoldshainer Abendmahlsthesen von 1957. Im Mai 1970 endete ein trotz seines wie erwähnt schwierigen Beginns schließlich doch geführtes lutherisch-reformiertes Lehrgespräch mit „Thesen zur Kirchengemeinschaft“. In diesen Thesen erblickten die Verfasser „den Vorschlag für eine Konkordie“, „die es ermöglicht, zwischen den Kirchen, die den in diesen Thesen formulierten Konsens anerkennen, Kirchengemeinschaft herzustellen“ . Im Oktober 1974 erklärten sich schließlich zunächst 50 lutherische, reformierte und unierte Kirchen in Europa einander in der „Leuenberger Konkordie“ Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Durch die verschiedenen Lehrgespräche war deutlich geworden, daß das gemeinsame Verständnis des Evangeliums von Jesus Christus ausreichend groß war, um die historischen Trennungen der frühen Neuzeit zu überwinden. Zudem hatte man sich daran erinnert, daß das Augsburger Bekenntnis von 1530 für die wahre Einheit – und also die Kirchengemeinschaft – der christlichen Kirchen keinen Totalkonsens einer vollkommenen Bekenntniseinheit fordert, sondern einen Fundamentalkonsens im Verständnis des Evangeliums und der Sakramente: „Denn dies ist genug – lateinisch: satis est – zu wahrer Einheit der christlichen Kirche, daß das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt werde und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden“ (CA VII) . Diese theologische Leitannahme einer lutherischen Bekenntnisschrift des sechzehnten Jahrhunderts prägt, wie Wenzel Lohff schon vor vielen Jahren vollkommen zutreffend betonte , die Leuenberger Konkordie und ist insofern ein Beispiel für die lebensorientierende Kraft der alten Texte in der Gegenwart, von der ich eingangs sprach. Im Blick auf das Abendmahl wurde das gemeinsame Verständnis der Kirchen im Text der Leuenberger Konkordie mit dem nur geringfügig variierten und vorhin bereits zitierten Schlüsselsatz der Arnoldshainer Abendmahlsthesen von 1957 entfaltet. Es dauerte freilich nochmals zehn Jahre, ehe 1984 in den westdeutschen Landeskirchen die Formulierung der Grundordnung der EKD aus dem Jahre 1948 geändert werden konnte und die längst bestehende Kirchengemeinschaft nun auch offiziell in diesem Dokument erwähnt wurde: „Zwischen den Gliedkirchen besteht Kirchengemeinschaft im Sinne der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie)“ (GO 1984 Art. 1 Abs. 4 vgl. auch Art. 4, Abs. 4).

Wenn wir uns nochmals die Ausgangslage der Jahre unmittelbar nach der Katastrophe des zweiten Weltkriegs und die schwierigen Debatten in Eisenach 1948 vergegenwärtigen, muß man die mit der Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie eingetretenen Veränderungen im Verhältnis der Gliedkirchen zueinander als schlechterdings grundstürzend bezeichnen: Seit 1974 bestand nun Kirchengemeinschaft zwischen den Gliedkirchen der EKD, obwohl das ganze Organisationsgefüge des deutschen Protestantismus eben unter der Voraussetzung entstanden war, daß eine solche Kirchengemeinschaft noch nicht möglich sei. Für unsere Zusammenhänge ist nun von großer Bedeutung, daß man weder an der Organisationsgestalt der EKD noch an der der konfessionellen Bünde trotz dieser grundstürzenden Veränderungen im Verhältnis der Gliedkirchen zueinander irgendetwas änderte – im Gegenteil, mit der „Arnoldshainer Konferenz“ war im Zusammenhang der Lehrgespräche ein neuer überkonfessioneller Zusammenschluß innerhalb der EKD entstanden; ein Nebeneinander, daß erst jetzt durch die „Union Evangelischer Kirchen in der EKD“ (UEK) beendet wird, was auch immer man über diesen Zusammenschluß im Einzelnen denken mag. Wohl wurde in den Jahren 1970 bis 1976 versucht, die auf die westlichen Gliedkirchen verkleinerte EKD aufgrund der nun bestehenden Kirchengemeinschaft zwischen den Gliedkirchen zu reformieren, aber dieser Reformversuch scheiterte in einem äußerst schwierigen allgemeinen politischen und kirchenpolitischen Umfeld letztendlich an der Ablehnung durch die pietistische Gruppe der württembergischen Landessynode . Es verdient angesichts heutiger Debatten mindestens eine Erwähnung, daß der Planungsausschuß der VELKD zunächst durchaus ein Schrittmacher der Reform war und gar die Umgestaltung der EKD von einem Kirchenbund zu einer Bundeskirche forderte. Harsche Kritik bayerischer Synodaler zeigte freilich, daß er damit nicht für alle Gliedkirchen der VELKD sprach; schnell wurden an diesem Punkt auch erhebliche Differenzen unter den lutherischen Bischöfen erkennbar . Der damalige leitende Bischof, Hans-Otto Wölber, schlug 1969 – wie jüngst sein Amtsnachfolger Knuth – die Abschaffung der VELKD unter der Bedingung einer Transformation der EKD in eine „Deutsche Evangelische Kirche Augsburgischer Konfession“ vor, fand aber mit diesem Vorschlag wie schon nach 1946 Hans Meiser keine Zustimmung bei den unierten und reformierten Kirchenleitungen . Details dieser von Olaf Lingner und anderen vorzüglich zusammengefaßten Reformdebatten müssen uns hier freilich nicht interessieren, u.a. deswegen, weil das Reformprojekt – wie gesagt – letztlich scheiterte.

Interessanter ist in unserem Zusammenhang der Blick auf die östlichen Landeskirchen, weil man hier im Vergleich zum Westen deutlich energischer zu Werk schritt. Auch hier scheiterte die Reform der gesamtkirchlichen Strukturen letztlich, aber mindestens ein entscheidender Teilschritt wurde trotzdem realisiert: „Seit dem 1.1. 1989 gab es die verfassungsmäßige Organisation einer Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in der damaligen DDR nicht mehr“ . Freilich trat die Selbstauflösung der VELK-DDR nach zwanzig Jahren separaten Bestehens angesichts der umwälzenden Veränderungen der Jahren 1989/1990 nicht sonderlich ins öffentliche Bewußtsein, zumal alle drei Gliedkirchen – Mecklenburg, Sachsen und Thüringen – nach der Wiedervereinigung schließlich wieder der VELKD beitraten. Diese Entwicklung innerhalb der alten DDR war insofern wenig verwunderlich, als schon 1969 bei der konstituierenden Tagung der VELK-DDR in Eisenach ein Referent auf die Frage „Brauchen wir eine VELK in der DDR“ antwortete, die VELK sei „eine Übergangsform, die den Weg zu einer vollen Gemeinschaft der evangelischen Kirchen in der DDR ebnet“ . Nach der gemeinsamen Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie 1973 veranstalteten die Landeskirchen in der DDR drei theologische Lehrgespräche zu Fragen der Kirchengemeinschaft, zur Zwei-Reiche-Lehre und zum kirchlichen Amt, die nach meinem unmaßgeblichen Eindruck im Westen kaum bekannt sind und es in den gegenwärtigen Debatten verdienen würden, auch hierzulande gründlich bedacht zu werden . Auf dieser theologisch vertieften Basis der durch die Leuenberger Konkordie konstituierten Kirchengemeinschaft beschloß 1979 eine aus Synodalen des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR, der Evangelischen Kirche der Union und der VELK-DDR zusammengesetzte Delegiertenversammlung in Eisenach, die Vereinigung aller gliedkirchlichen Zusammenschlüsse zu einer einzigen „Vereinigten evangelischen Kirche“. Zusammengefaßt wurde dieser Prozeß unter dem mißverständlichen Stichwort der „Kirchwerdung“ des Bundes evangelischer Kirchen in der DDR. Als 1984 die östliche Regionalsynode der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg diesem Projekt die Zweidrittelmehrheit verweigerte, begann trotzdem der Prozeß der Selbstauflösung der VELK-DDR und kam 1989 zu seinem vorläufigen Abschluß. Natürlich ist damals in den gliedkirchlichen Synoden auch diskutiert worden, ob nun durch den Fortfall der VELK das lutherische Proprium oder gar das lutherische Bekenntnis der drei lutherischen Gliedkirchen in Gefahr sei – Ernst-Rüdiger Kiesow hat vor einigen Jahren die verschiedenen Versuche ostdeutscher Kirchenleitungen und synodaler Arbeitsgruppen, dieses lutherische Proprium zu beschreiben, zusammengestellt . Aus heutiger Perspektive fällt an diesen Papieren auf, wie wenig hier von den lutherischen Bekenntnistexten des sechzehnten Jahrhunderts die Rede ist: 1978 sprach die lutherische Kirchenleitung beispielsweise von einem allgemeinen christlichen Proprium, daß von Lutheranern in einer bestimmten theologischen Perspektive akzentuiert werde, aber nicht in allen Fällen wirklich auf die Ebene kirchlicher Praxis durchschlage . Diese besondere theologische Perspektive sei aber durch die organisatorischen Veränderungen nicht in ihrem Bestand gefährdet.

An dieser Stelle endet der historische Teil meines Referates und der Kirchenhistoriker schließt unter den eingangs genannten Kautelen noch zwei Thesen an, die systematische Konsequenzen aus dem historischen Befund zu ziehen versuchen und daher knapper kommentiert werden können:

(3) Mit der gegenseitigen Erklärung von Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen lutherischen, unierten und reformierten Kirchen in der Leuenberger Konkordie ist der zwingende theologische Grund für die separaten konfessionellen Zusammenschlüsse innerhalb der EKD entfallen. Für die konfessionellen Bünde können nun nicht mehr zwingende (d.h. schlechterdings unwiderlegbare) Gründe geltend gemacht werden, sondern nur noch gute Gründe vor allem pragmatischer Art. Bei den gegenwärtigen heftigen Debatten über mögliche Strukturveränderungen müssen daher vor allen die Ebenen, auf denen argumentiert wird, unterschieden werden und der Status der Argumente präzise bestimmt werden. Ein besonders neuralgischer Punkt ist die schwierige Differenzierung zwischen Fragen des Bekenntnisses, Fragen individueller bzw. gemeinschaftlicher theologischer Schwerpunktsetzung und sonstigen kirchlichen Prägungen.

Kaum ein Christenmensch wird bestreiten, daß es zwingende – also unwiderlegbare – Gründe dafür gibt, daß überhaupt eine Kirche existiert und die Menschen nicht auf sich allein gestellt verzweifelt nach ihrem Heil suchen müssen. Im Augsburger Bekenntnis von 1530 heißt es: „Es wird auch gelehrt, daß alle Zeit eine heilige christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Glaubenden ist“ (CA VII) . Ebenso unwiderlegbar ist auch, daß das Faktum einer geordneten äußeren Struktur zum Wesen der Kirche als „Gemeinschaft der Glaubenden“ hinzugehört , schon allein deswegen, weil der Glaube ja wie die Kirche keine platonische Idee ist , sondern im alltäglichen Leben leibhaft-konkrete Gestalt gewinnt. Vor der Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie bildete die fehlende Gemeinschaft bei Verständnis und Praxis des Abendmahls einen zwingenden theologischen Grund dafür, warum die VELKD nicht zugunsten von Arbeitsformen innerhalb der Gremien der EKD aufgelöst werden konnte. Vielmehr gab es zwingende theologische Gründe, der Gemeinschaft lutherischer Kirchen in Deutschland eine eigenständige geordnete äußere Struktur zu geben. Dieser zwingende theologische Grund ist entfallen und es scheint mir kein Zufall, daß man seit einiger Zeit auch viel offener im Blick auf die EKD von einer Kirche spricht. Jüngst hat die Theologische Kammer der EKD in ihrem Votum „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“ mit wünschenswerter Klarheit festgestellt, daß die EKD – theologisch betrachtet – längst Kirche ist . Ihre Gliedkirchen teilen ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums, haben Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, eine gemeinsame Synode und kirchenleitende Strukturen. Gelegentlich wird gegen diese Position eingewandt, daß zu einer Kirche notwendigerweise ein gemeinsames Bekenntnis im Sinne eines allgemeinverbindlichen Corpus von Bekenntnistexten gehöre, welches die konfessionell unterschiedlich geprägten Landeskirchen als Gliedkirchen der EKD in Deutschland nun einmal nicht hätten. Bekanntlich kann die für die Kirchengemeinschaft im deutschen Protestantismus so entscheidende Leuenberger Konkordie diese Rolle eines Grundbekenntnisses der EKD gegenwärtig schon deswegen nicht einnehmen, weil sie sich selbst gerade nicht als Unionsbekenntnis versteht, sondern als eine gemeinsame Aussage bekenntnisverschiedener Kirchen. Die gegenwärtig immer wieder zu hörende Meinung, der EKD fehle zum Kirchesein ein gemeinsames Corpus von Bekenntnisschriften, entspricht aber zum einen nicht dem Augsburger Bekenntnis von 1530, in dem – wie vorhin bereits zitiert – nicht ein gemeinsames Textcorpus, sondern ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums für genug gehalten wird (satis est). Zum anderen wird der Kirchenhistoriker darauf hinweisen, daß man bei Anwendung dieses Kriteriums auch der Kirche der ersten drei Jahrhunderte den Kirchencharakter absprechen müßte – gab es doch auch damals noch keinen feststehenden gemeinsamen Bekenntnistext. Außerdem gründen sich alle Gliedkirchen der EKD auf die Bekenntnisse der antiken Christenheit, wie durch das gemeinsame Sprechen des apostolischen Glaubensbekenntnisses ja auch jeden Sonntag für alle sichtbar wird. Und schließlich beobachtet der Kirchenhistoriker, daß zwei ursprünglich nicht als Bekenntnisse gemeinte Texte – nämlich die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen und die Leuenberger Konkordie – in ihrer Rezeption wie Funktion immer mehr einem gemeinsamen Bekenntnis bekenntnisverschiedener Kirchen entsprechen. Auch das gab es übrigens in der Kirchengeschichte schon häufiger, als manche systematische Theologen der Gegenwart meinen.

Wenn man als Kirchenhistoriker die zweihundertjährige Debatte um den Zusammenschluß der deutschen Landeskirchen und um die konfessionellen Bünde analysiert, fällt auf, daß bestimmte Schlagworte immer wieder fallen und bestimmte Ängste von Anfang an die Debatte bestimmen: Partikularismus, Zentralismus, Verlust des Propriums, Nivellierung des Bekenntnisses, Bürokratisierung, Gigantomanie, Technokratie – ich könnte die Liste länger fortsetzen. Vermutlich sind solche Wiederholungen unvermeidlich, weil die Schlagworte auf reale Gefahren von unüberlegten Reformen hinwiesen und hinweisen. Gewichtiger scheint mir aber ein anderes Problem der uralten Diskussion um die Strukturen im deutschen Protestantismus. Auch Präsident von Vietinghoff hat in seinem Papier „Reform ist nötig – Reform ist möglich“ vom Januar 2002 darauf aufmerksam gemacht, daß eines der gewichtigsten Probleme der Debatte – wenn nicht ihr Kardinalproblem – die häufige Verwechslung von Ebenen der Argumentation ist: „Liegt nicht vieles von dem“, schreibt er, „was als bekenntnisgeboten behauptet wurde und wird, auf einer anderen Ebene, nämlich der des spezifischen Klimas, des Stils, der gewachsenen Denk- und Handlungsweisen, die eine Landeskirche aus Tradition und landsmannschaftlichem Umfeld prägen?“ .

(4) Wie bereits der Blick in die Geschichte evangelischen Christentums in Deutschland zeigt, wird der sogenannte „Bekenntnisstand“ einer Landeskirche nicht primär durch die übergreifenden konfessionellen Bünde bewahrt oder verändert, sondern zuallererst durch die Landeskirchen selbst, durch die theologische Arbeit in den Gemeinden und an den Fakultäten. Die lebensorientierende Kraft der alten Bekenntnistexte wird zunächst in einzelnen konkreten Gemeinden durch die öffentliche Wortverkündigung, durch das gemeinsame Gespräch und durch das aktuelle Bekennen sichtbar gemacht. Welche Organisationsgestalten über der Ebene der Landeskirchen hinaus dafür geeignet sind, diese lebensorientierende Kraft öffentlichkeitswirksam zur Geltung zu bringen, bedarf gegenwärtig einer nüchternen Diskussion.

Ungeachtet der wichtigen Funktion, die eine zentrale Pflege lutherischer Identität durch das Kirchenamt der VELKD, die verschiedenen Kommissionen und die Generalsynode hat – man denke nur an verschiedene Studien, das gemeinsam mit der EKU verantwortete Agendenwerk, die Katechismen –, muß die Frage erlaubt sein, wo genau und wie der sogenannte „Bekenntnisstand“, also die theologische Identität von lutherischer Kirche in Deutschland gepflegt wird, wo also die lebensorientierende Kraft der lutherischen Sicht auf Wort, Werk und Person Jesu Christi zur Geltung gebracht wird. Wir sind uns sicher alle darüber einig, daß der spezifische Ort, wo dies geschieht, zunächst und zuallererst die konkrete christliche Gemeinde vor Ort ist. Zwischen Aurich und Zeven entscheidet sich, ob die Hannoversche Landeskirche eine lutherische Landeskirche ist, ob das Leben konkreter Menschen in diesen Gemeinden durch aktuelle Interpretationen dieses alten Bekenntnisses im Gottesdienst und sonstigen Veranstaltungen orientiert wird. Ob diese spezifische lebensorientierende Kraft des lutherischen Bekenntnisses darüber hinaus nun besser in den bisherigen Parallelstrukturen von EKD, VELKD, UEK und Reformiertem Bund zur Geltung gebracht werden kann oder in einer institutionell starken lutherischen Klasse der EKD-Synode, einer lutherischen Klasse der Kirchenkonferenz, des Kirchenamtes und des Rates, ist eine pragmatische Frage, keine Frage von Bekenntnisrang oder von sonderlich hoher theologischer Dignität. Sie kann dies schon deswegen nicht sein, weil wir sonst die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen, die im November des Jahres 2000 eine „verbindlich strukturierte Kooperation mit dem Ziel der Föderation“ mit einer unierten Landeskirche vertraglich vereinbart hat und gegenwärtig über die Integration einer weiteren unierten Landeskirche nachdenkt, aus theologischen Gründen händeringend vor diesem Schritt warnen müßten. Der Magdeburger Synodalpräsident Kiderlen erklärte bei der Diskussion über diesen Vertrag in der Synode der provinzsächsischen Kirche: „Die Kooperation mit der ELKTh wird die Kirchenprovinz nicht ‚lutherischer’ machen, - und die ELKTh wohl auch nicht ‚unierter’“ . Da ich selbst – wie Sie gemerkt haben dürften – von der lebensorientierenden Kraft der lutherischen Theologie für die Gegenwart ziemlich fest überzeugt bin, würde ich deutlichere Hoffnungen an die Fusion im mitteldeutschen Raum formulieren: Wenn es gut geht, werden die Thüringer Christenmenschen angesichts der nun begonnenen intensiveren Kontakte mit einer unierten Kirche in Zukunft viel besser wissen, warum sie Lutheraner sind und was das eigentlich bedeutet. Eberhard Jüngel hat vor kurzem darauf hingewiesen, daß nach einer Integration der konfessionellen Bünde unter das Dach der EKD die Bekenntnisbindung sogar intensiviert werden könne, „insofern man im unmittelbaren Gegenüber von lutherischen, unierten und reformierten Landeskirchen sich stets auf neue darauf besinnen muß, warum man nun lutherischen oder aber anderen Bekenntnisses ist“ . Es kann, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, in der gegenwärtigen Debatte ja nicht um eine Nivellierung der Spezifika der drei Konfessionskulturen in Deutschland gehen. Denn wer wollte beispielsweise bestreiten, daß die alte lutherische Botschaft von der Rechtfertigung noch heute auf gelingendes Leben hin orientiert: Der Mensch ist nicht die Summe seiner Leistungen. Welche Orientierungskraft liegt in einer solchen Botschaft! Wir sollten aber verstärkt gemeinsam darüber nachdenken, wie sie unter gegenwärtigen und künftigen Rahmenbedingungen möglichst klar und effizient weitergeben werden kann.