Predigt zur Eröffnung der Landessynode
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von Landessuperintendent Manfred Horch
Predigttext: Hebräer 4,9-13
I. Die Unruhe, die uns umtreibt
Liebe Gemeinde,
er saß im ICE: schwarzer Business-Anzug. Offenbar mittleres Management. Rollkoffer, Laptoptasche, dunkler Kurzmantel - alles sehr gediegen. Und hinter dem Ohr, etwa in Höhe der Nase ein silbergraues Gerät, ein Head-Set, das ein wenig in sein Gesicht hineinragte. Dorthinein sprach er gelegentlich, gab womöglich seiner Sekretärin Anweisungen, führte irgendwelche geschäftlichen Gespräche. Man bekommt’s ja nicht so genau mit. Auf den anderen Plätzen im Zug ebensolche Herren oder Damen, die mit ihren PCs arbeiteten, man hörte das leise Klappern der Tastaturen, gelegentlich klingelten die Handys... Alltag im ICE. Jener Herr erschien mir wie ein Symbol für unsere Ruhelosigkeit, für Termindruck, für unser immens beschleunigtes Leben, für den Anspruch ständiger Erreichbarkeit.
Begegnet einem solch ein Wort „Es ist noch eine Ruhe vorhanden“... dann fällt der Blick zunächst auf die eigene Ruhelosigkeit. Man erinnert sich an den kleinen, aber hochwirksamen selbstgeschaffenen Tyrannen, den jeder und jede von uns mit sich trägt, den Terminkalender. Ausdruck unserer vielfältigen Verpflichtungen, Ausweis von Wichtigkeit und Unabkömmlichkeit. „Es ist noch eine Ruhe vorhanden“, trifft daher meine und gewiss auch Ihre Sehnsucht, nämlich nicht ständig getrieben zu sein, sondern die Arbeit gelassen tun zu können. Oft zerfasert ja die Zeit. Ich weiß, und ich vermute wir wissen es alle, dass es nicht immer der Druck der Notwendigkeiten ist, der uns die weißen Blätter des Kalenders füllen lässt. Natürlich gibt’s eine Menge objektive Faktoren, die uns zu Getriebenen machen. Dennoch: Manch einer hat Angst vor der nicht gefüllten Zeit. Arbeit definiert uns gewöhnlich, wir haben das zutiefst verinnerlicht. Und wenn ich mich nicht durch Arbeit definiere, wodurch dann? Die Gefahr unserer Ruhelosigkeit besteht auch darin, dass sie uns von unseren Mitmenschen und von uns selbst entfremdet, und sie raubt uns die Nähe zu Gott, weil wir häufig auch dafür keine Zeit haben. „Es ist noch eine Ruhe vorhanden“, behauptet der Hebräerbrief und spielt damit an auf das Geschenk der Ruhe, von dem in der Schöpfungserzählung die Rede ist. Dort bekennt Israel, dass Gott der Zeit einen Rhythmus gegeben hat. Denn Gott hat Zeit, und er schaffte aus der Ruhe heraus seine Welt, und ruhte am siebten Tag. Und weil er aus der Ruhe heraus schöpferisch handelte und dann in sie zurückkehrte, war das Fazit seines Schaffens: „Und siehe, es war alles sehr gut.“ Auch Jesus zog sich hin und wieder zurück, um zu beten, um Kraft zu schöpfen, vor allem aus der Verbindung zu Gott, seinem Vater. Ein atemloser, hektischer, aus Zeitnot unglücklicher Christus ist für mich nicht vorstellbar, seine Worte und Taten erwuchsen, glaube ich, aus Konzentration und innerer Sammlung auf Gott. Für uns geht’s wohl immer wieder darum uns einzuüben und in die Ruhe zurückzukehren. Ich fand im Adventskalender „Der andere Advent“ (Ich weiß wohl, „Advent ist im Dezember“!) einen Brief von Bernhard von Clairveaux an Papst Eugen III.
Darin schreibt er ihm: „Wo soll ich anfangen? Am besten bei Deinen zahlreichen Beschäftigungen, denn ihretwegen habe ich am meisten Mitleid mit Dir. Ich fürchte, dass Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest: dass Du Dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst.
Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst. Du fragst: »An welchen Punkt?« An den Punkt, wo das Herz hart wird.
Wenn also alle Menschen ein Recht auf Dich haben, dann sei auch Du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. Warum solltest einzig Du selbst nichts von Dir haben? Wie lange noch schenkst Du allen anderen Deine Aufmerksamkeit, nur nicht Dir selbst? Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein?
Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst. Ich sage nicht: »Tu das immer.« Ich sage nicht: »Tu das oft.« Aber ich sage: »Tu das immer wieder einmal. Sei wie für alle anderen auch für Dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen.«
Ein schöner Rat, nicht wahr? Denn was seinerzeit vielleicht nur die Päpste betraf, ist heute das Problem vieler, die Zeitarmut nämlich. Und es gut zu hören: Es gibt die Erlaubnis zur Ruhe, damit das Herz ein mitfühlendes Organ bleibt und nicht verhärtet!
II. Das Geschenk der Ruhe – diesseitig und jenseitig
Derzeit ist der Sonntag in Gefahr, die Ladenöffnungszeiten wurden liberalisiert und die Sonntagsruhe wird ausgehöhlt durch Ausnahmegenehmigungen. Kommunen erfinden „Ereignisse überregionaler Bedeutung“, um Sonntagsöffnungszeiten zu ermöglichen. Was ist es nun um den Sonntag und den Sabbat? Weshalb legt die jüdische und die christliche Tradition solchen Wert auf den Ruhetag?
Die Bibel hat, was den Umgang mit Zeit betrifft, zwei schöne und überaus wertvolle Geschenke für uns Menschen. Diese Geschenke sind der Sabbat und der Sonntag; wir haben in unserem christlichen Sonntag beide Bedeutungen miteinander verwoben.
In der Woche sind wir über Arbeit gebückt und gebeugt. Das ist notwendig und geboten, dass wir arbeiten und uns mühen. Doch der Sabbat sagt: Wir dürfen auch aufhören, es ist erlaubt und geboten, den Blick von den Maschinen und den Computern wegzunehmen und aufzublicken.
Unser Gesichtsfeld darf sich weiten, wir dürfen und sollen nachdenken über das Woher und das Wohin unseres Lebens. Daher ist der Sonntag für uns auch der Tag der Nachdenklichkeit. Er entschleunigt, er verlangsamt die Zeit. Das tut uns gut.
Zugleich feiert der Sonntag, vor allem jeder Gottesdienst, ein kleines Ostern, die Auferstehung. So blicken wir an jedem Sonntag nach vorne, weil Gott uns in Christus einen Weg nach vorne gezeigt hat. Und dann fragen wir nach den kleinen und großen Zielen. Wie soll es weitergehen? Wo sollen wir hin? Was sollen wir nach Gottes Willen tun?
Dafür steht der Sonntag, dass wir auf Gott hören und uns der Blick geweitet wird, damit die guten Ideen sich einstellen, damit wir, inspiriert vom Evangelium, miteinander - soweit es menschenmöglich ist - eine gute Zukunft erfinden. Und eben am Sonntag Kräfte sammeln, um an einer guten Zukunft zu arbeiten. Denn: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.“ Wir sollten als Kirche, als Christinnen und Christen für den Erhalt des Sonntags kämpfen, nicht für uns in erster Linie, etwa weil der Sonntag uns gehörte, was Unsinn ist, er gehört allen. Er ist ein Tag für die Menschen. Unsere Kultur verlöre etwas ganz Wesentliches, wenn wir den Sonntag zerstören und aushöhlen. Der Sonntag setzt ein Signal, dass Leben mehr ist als Arbeiten, Kaufen und Besitzen, er macht Gemeinschaft möglich, er ist ein Pol der Ruhe.
Nun spricht unser Wort auch von einer Ruhe, die mehr ist als der Sabbat oder der Sonntag, es redet von der Gottesruhe als Ziel der Geschichte Gottes mit den Menschen. Was ist gemeint? Die ersten Adressaten des Briefes waren in großer Unruhe und Angst, sie waren getauft, sie wurden verfolgt, etwa um 100 nach Christus. Viele waren glaubensmüde geworden, der Druck auf sie war zu stark geworden, sie kamen kaum noch in die Versammlungen. Sie scherten aus dem wandernden Gottesvolk aus und blieben zurück. Sie hatten das große Ziel aus den Augen verloren. Der Schreiber des Hebräerbriefes mahnt, ermutigt und motiviert sie. Ja, er droht sogar damit, dass es den resignierten und müden Christen so gehen könnte wie seinerzeit dem Volk Israel in der Wüste, von denen viele die ersehnte Ruhe im verheißenen Land nicht erreichten, weil sie murrten, und Gott nichts mehr zutrauten. Aber sein Hauptmotiv ist es ganz eindringlich das Ziel immer wieder aufzuzeigen: „In der ganzen Mühsal eures Lebens, in der schlimmen Verfolgung und in all den Gefahren, die euch niederdrücken, dürft ihr nie vergessen, dass Gott eine Ruhe, seinen Sabbat am Ende der Zeit für euch bereit hält. Die Ruhe ist vorhanden, ihr geht auf sie zu. Bleibt daher nicht zurück.“
Wo im Deutschen im Hebräerbrief „Ruhe" übersetzt wird, steht im Griechischen „Sabbatruhe“. Es geht also ums Ausruhen von der Mühe und dem Leid des Lebens. Wer glaubt, wer also an der Hoffnung festhält, wird einst mit allen anderen Befreiten Platz nehmen an Gottes Tisch. Jesus selbst spricht oft vom Reich Gottes als dem Festmahl, das er mit allen Befreiten feiern wird, den Sonntag Gottes, die Feier der Freiheit. Der Hebräerbrief hat keine nur individuelle Perspektive der Hoffnung. Es heißt hier ganz bewusst: Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk (!) Gottes. Alle sollen mitkommen, auch die letzten in diesem langen Zug, die Armen, die Entrechteten, die Starken und die Schwachen, die Zweifler und die Mutlosen, die Fröhlichen und die Traurigen. Also, alle anderen und auch ich, sollen zu jener Ruhe finden, weil Christus sie bereit hält, und weil er für uns alle einsteht. Das war und ist die Botschaft des Ewigkeitssonntags, an dem wir unserer Toten gedenken, vor allem aber unserer Hoffung.
III: Vom scharfen Wort und von der Kirche des Wortes
Als Gemeinde beim Wort bleiben und sich diesem Wort gegenüber nicht zu verhärten, fordert der Verfasser des Hebräerbriefes. „So verliert ihr euch nicht, so behaltet ihr das Ziel im Auge, so bleibt ihr unterwegs auf dem Weg der Nachfolge“, sagt er. Kirche bleibt Kirche, wenn sie beim Wort bleibt, dadurch werden wir gestärkt, dadurch wird Kirche erneuert.
„Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn ein zweischneidiges Schwert und dringt durch, bis dass es scheidet Seele und Geist, Mark und Bein...“ - ziemlich martialisch, nicht wahr? Also, schnell weiterblättern, weg damit! Nein, wir würden ja wesentliches unterschlagen, nämlich die Dynamik des lebensschaffenden, die Wahrheit aufdeckenden Gotteswortes. Es ermutigt, aber es kann durchaus unangenehm sein, einschneidend sozusagen, wenn uns dieses Wort in seiner Schärfe und Wahrheit begegnet. Erfahrungen der Wahrheit über uns selbst können auch Sternstunden sein, für uns persönlich und für uns als Kirche, weil sie uns neu ausrichten.
Der Kirchentag in Köln hat als Motto „lebendig, kräftig und schärfer“ - ein Wortspiel, entlehnt aus unserem Predigtwort. Und sie haben dem oft so harmlos aussehenden Fischchenemblem, das zum Zeichen der Zugehörigkeit zur christlichen Kirche an manchen Autohecks klebt, eine scharfe Haifischflosse beigegeben, zum Zeichen dafür, dass der christliche Glaube auch kantig ist, Verstand und Gefühl fürs wesentliche schärft und klar sagt, was Sache ist. Ich finde dies Kirchentagslogo pfiffig und kreativ, denn es weist über sich hinaus auf’s Wort, das wir zu verkünden und zu bezeugen haben.
Wir sind als evangelische Kirche „Kirche des Wortes“, des guten, kritischen, aufbauenden und orientierenden Gotteswortes. Von uns erwarten die Menschen nach wie vor das Wort, die Predigt des Wortes, die das Herz berührt und dem Verstand einleuchtet. Neulich war ich als Visitator in einer ziemlich kleinen Dorfgemeinde, etwa 220 Evangelische, 250 Einwohner, städtisch gesehen also nicht mehr als zwei Wohnblocks Menschen. Was Säkularisation und Traditionsabbruch angeht, durchaus keine Insel der Seligen. Land und Stadt haben sich darin (leider) sehr angenähert, lediglich der soziale Zusammenhalt ist noch größer als anderswo. Wir sprachen über die Aufgabe von Kirche in diesem Dorf. Die Antwort war: Wir sind als Kirche bedeutsam für das soziale Leben hier, aber das wichtigste ist: Kirche vertritt Inhalte. Sie hat etwas zu sagen, sie hat das Wort weiterzugeben. Dieses Wort ist einfach da mit seinem kräftigen Anspruch und Zuspruch an uns. Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Er sagt klar: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich“. Alles, was wir in unseren Gemeinden tun, alles, was wir unterlassen, muss sich an ihm ausrichten und messen lassen. Darum geht’s.
Wir erleben unter uns beides: Neuen Aufbruch, wo es gelingt Menschen anzusprechen: Mit schönen Gottesdiensten, durch Bildung im Glauben, durch diakonische Projekte, durch Feste und Feiern, durch regionale Kirchentage usw. Und manche bedrängt dennoch die Frage angesichts von Traditionsabbruch und nachlassender Bindung an die Kirche: Brauchen sie uns und das Wort noch? Ja, die Menschen brauchen uns, sie brauchen das Wort, sie brauchen Orientierung. In einem Essay von Wolfram Weiner fand ich neulich schlüssig dargelegt, wie groß die religiöse Sehnsucht der Menschen nach geordneter Behausung in einer obdachlos gewordenen Moderne ist. Wir werden wichtiger werden als Kirche des Wortes, weil die Menschen Obdach suchen werden im Glauben. Sie werden in der Raserei der Moderne nach dem suchen, was unser Wort mit jener Ruhe meint, die Gott vorhält, sie werden nach Orientierung aus dem Wort verlangen. Bereiten wir uns darauf vor. Bleiben wir selbstbewusst bei unsrer Sache.
Amen.