Startseite Archiv Nachricht vom 27. Januar 2019

"Erinnern braucht Namen, Orte und Gesichter"

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„Vor der Reise konnten wir uns nicht im Geringsten vorstellen, was uns wirklich erwarten würde.“ Das schreibt eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die an einer vom Kirchenkreis Nienburg organisierten Reise nach Auschwitz und Krakau teilgenommen haben. Natürlich haben sie die Shoa im Geschichtsunterricht behandelt. Aber einen der letzten Zeitzeugen zu treffen und die Orte unvorstellbarer Qualen und unvorstellbarer Schuld selbst aufzusuchen, ist etwas völlig anderes.

In der Landeskirche Hannovers wollen wir die Erinnerung aufrecht halten – nicht nur heute am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Im vergangenen Jahr haben wir sechs „Friedensorte“ ausgewählt, die wir unterstützen. An diesen Orten suchen wir nach den Lehren aus der Vergangenheit, um unsere Gegenwart zu gestalten. Zum Beispiel in der Gedenkstätte Lager Sandbostel: Hier wurden sowjetische Kriegsgefangene ausgebeutet und mutwillig dem Tod überlassen. In den letzten Kriegswochen hat man hier noch 3000 KZ-Häftlinge ermordet.

Zu den „Friedensorten“ gehört auch das Anne-Frank-Haus, das Bildungshaus der Gedenkstätte Bergen-Belsen, das vom Christlichen Verein Junger Menschen getragen wird. Hier wird 2019 ein Jubiläum gefeiert: Bereits zum 25. Mal treffen sich 50 Jugendliche aus ganz Europa, aus Israel und Südafrika, um Lehren aus der Geschichte zu ziehen: Denn der Antisemitismus ist nicht mit dem Ende der Shoa verschwunden. Das Internationale Jugendworkcamp ist das größte Projekt dieser Art in Deutschland. Kaum eine andere internationale Jugendbegegnung kann auf eine Kontinuität von 25 Jahren zurückschauen.

Für diese Jugendlichen ist das Erinnern nicht in Ritualen erstarrt. Es kennt Namen, Orte und Gesichter. Wer einmal auf dem Boden von Bergen-Belsen stand und dort die Berichte gehört hat von den Verhungernden, die sich die Erde in den Mund stopften auf der Suche nach dem Geschmack von etwas verschütteter Suppe, der wird nie wieder von einem „Vogelschiss in der Geschichte“ sprechen.

Zum ersten Mal begehen wir in diesem Jahr den Holocaust-Gedenktag auch als Gedenktag der Kirche. Mit der neuen Ordnung der Lese- und Predigttexte, die am 1. Advent in Kraft getreten ist, sind der 27. Januar und der 9. November, der Tag des Gedenkens an die Pogrome 1938, ein Teil des Kirchenjahrs. Damit erkennen wir als Christinnen und Christen auch die Mitschuld der Kirche am mörderischen Antisemitismus an: Über Jahrhunderte haben Theologen das Judentum abgewertet und diffamiert. Die Christen von heute trifft daran keine Schuld, aber sie tragen Verantwortung: Es darf nicht sein, dass Europa wieder zu einem Ort wird, an dem Jüdinnen und Juden sich nicht sicher fühlen. Antisemitismus ist Gotteslästerung."

Landeskirche
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Kuppel in der "Halle der Namen" in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem am 07.12.15. Bild: Matthias Rietschel/epd-bild