Botschaften aus dem prallen Leben: Religionsunterricht und Corona
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Für Religionslehrer ist die Corona-Krise eine große Herausforderung. Denn Diskutieren geht nicht, weil die meisten Schüler im "Homeschooling" sind. Und Fragebögen abhaken entspricht nicht dem Charakter des Faches. Doch viele Lehrer haben neue Ideen
Der Mann mit der Glatze steht vor einer Backsteinwand, er redet und gestikuliert lebhaft. Dann greift er sich eine Hantel und trainiert scheinbar, hört dabei aber nicht auf, in die Kamera zu sprechen. Wer bei Dirk Bischoffs Videos den Ton nicht einschaltet, würde wohl nicht darauf kommen, dass der 47-Jährige aus Peine gerade als Schulpastor und Religionslehrer spricht. Und dass seine Videos zugleich als Trost und virtueller Religionsunterricht fungieren.
Bischoff hat YouTube und Facebook seit Beginn der Corona-Krise ganz neu für sich entdeckt. Seitdem er seine Schülerinnen und Schüler der Berufsbildenden Schule in Peine-Vöhrum nicht mehr im Klassenraum trifft, nimmt er eben die Kamera mit in die private Muckibude und auf seine Touren mit dem Motorrad. Dann erzählt bei einer Pause am Straßenrand, dass Vorsicht, Hoffnung und Respekt auf dem Zweirad genauso wichtig sind wie im sonstigen Leben. Unterricht mit Lederkluft und Helm - Bischoffs Botschaften kommen aus dem prallen Leben. "YouTube ist für mich echt ein Freiraum", sagt der studierte Theologe. "Ich kann das tun, worauf ich Bock habe, nach meinen eigenen Regeln."
Zehntausende von Lehrkräften unterrichten in Deutschland das Fach Religion an allgemeinbildenden oder berufsbildenden Schulen, allein etwa 12.500 sind es in Niedersachsen. Sie alle haben wie Dirk Bischoff im Moment die Aufgabe, den größten Teil ihrer Schülerinnen und Schüler beim "Homeschooling" am heimischen Schreib- oder Küchentisch mit den Inhalten ihres Fachs zu erreichen. Während allerdings etwa in den Kernfächern Mathematik und Deutsch fleißig Arbeitsblätter ausgefüllt und Wochenpläne abgearbeitet werden, eignet sich Religion nur bedingt für solchen Unterricht. Abhaken und weitermachen - das ist nicht der Stil des Fachs.
"Religionsunterricht lebt vom Austausch und davon, dass man über Dinge diskutiert", sagt Ingrid Wienecke, Geschäftsführerin des Aktionsausschusses Niedersächsischer Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Die Rückmeldungen, die sie von Kolleginnen und Kollegen bekomme, deuteten momentan auf eine schwierige Situation hin. Der Schulunterricht werde auf die "wesentlichen Fächer" reduziert, und Religion falle häufig aus.
Ein weiteres großes Problem: Beim Wiederbeginn des Präsenzunterrichts hat das Fach schlechte Karten, weil die Lerngruppen vielfach klassenübergreifend zusammengesetzt werden. Das Kultusministerium gebietet aber aktuell, die Klassen zusammenzuhalten und die Lernenden möglichst wenig zu mischen. Es gibt Grund zur Sorge, das Fach könne zum Krisenverlierer werden.
Religionslehrerin Hanna Wagner aus Hildesheim trifft nicht nur die Herausforderung des "Homeschooling", sondern auch die Frage der Kinderbetreuung. Ihr Sohn ist sechs Jahre alt und wird im Sommer eingeschult – so lange wird er wohl noch um die Mama herumtoben, während sie den Unterricht von zu Hause aus vorbereitet. Etwa 200 Schülerinnen und Schüler in den Klassenstufen 5, 8 und 11 hat sie derzeit im Religionsunterricht - in der 8. Klasse geht es etwa um Menschenwürde.
Am Computer experimentieren Wagners Schüler nun mit Fotos und Videos: "Man kann jetzt kreativer werden und manch ein stillerer Schüler blüht jetzt auf“, sagt Wagner. „Wir Lehrer können auch gezielter Feedback zu einzelnen Aufgaben geben - wann ist das im Unterricht sonst so detailliert möglich?“ Viele Jugendliche erledigten ihre Aufgaben brav und gewissenhaft, aber bei manchen komme keine Rückmeldung. "Da weiß man wirklich kaum, wie es ihnen geht", sagt die Lehrerin aus Hildesheim. Die jeweiligen Klassenlehrer seien zwar sehr bemüht, den Kontakt zu halten, aber das klappe nicht immer: "Wer vorher mit der Schule überfordert war, ist es jetzt noch mehr."
Janna Kappei-Ungerer, Lehrerin für evangelische Religion und Latein an der katholischen Privatschule St. Ursula in Hannover, bemerkt beim "Homeschooling" per Internet deutliche soziale Unterschiede unter den Schülern: „Einige haben schon damit Probleme, etwas auszudrucken, ausgefüllt einzuscannen und zurückzuschicken, andere erledigen ihre Aufgaben mit großer Leichtigkeit und senden mir druckreife theologische Erörterungen zu.“ Vor allem in ihrem Religions-Prüfungskurs im 12. Jahrgang gebe es sehr leistungsstarke und theologische interessierte Schüler. Bei einem jüngeren Schüler lebten die Eltern getrennt, sodass das Kind bei einem Elternteil den Computer zum Arbeiten nutzen könne, beim anderen nicht. Sie persönlich habe durchaus die Vorteile des digitalen Arbeitens zu schätzen gelernt, sagt Kappei-Ungerer: „Aber ich bin auch froh, wenn es wieder ganz normalen Unterricht geben kann.“
Die 56-Jährige arbeitet seit 2005 an der kirchlichen Schule, zuvor hat sie an staatlichen Schulen unter einer sehr kritischen Sicht auf ihr Fach leiden müssen: "Teilweise wurde es gar nicht erteilt und kritisch beäugt. Das ist hier an der St. Ursula-Schule ganz anders. Religion ist das Fach, bei dem ich mit den Schülern auch in die Auseinandersetzung gehen kann: Was bedeuten Dinge persönlich für Euch?" Es gehe nicht nur wissensorientiert zu. Und man suche nicht nach abschließenden Antworten, sondern sei gemeinsam auf der Suche - womöglich genau die richtige Mischung in unsicheren Zeiten.
Dirk Bischoff baut aktuell viele "Learning Snacks": kleine für Smartphone und Computer konzipierte Unterrichtseinheiten, die wie ein Chat funktionieren. Videos, Facebook-Posts und Texte dienen als Impulse, dann wird mit Abstimmungen und im Frage-Antwort-Stil darüber virtuell gesprochen - etwa über die Abwägung, wer in einer Extremsituation im Krankenhaus Zugang zu knappen Beatmungsgeräten bekommen sollte.
Bischoff lässt sich Lerntagebücher schicken und gibt immer schriftliches Feedback. Viele Schülerarbeiten zu Corona seien sehr reflektiert und beeindruckend. "Ich freue mich darüber und nutze viele Kommunikationswege. Aber das Ganze stößt an Grenzen." Vor allem habe er deutlich größere Schwierigkeiten, auch die Leistungsschwachen zu erreichen: "Da tauchen einige im Augenblick förmlich ab." Das habe auch damit zu tun, dass die technische Ausstattung zu Hause bei weitem nicht bei allen gleich gut sei.
Er würde auch dann weiter Videos anbieten, wenn wieder so etwas wie ein Normalzustand erreicht sei, sagt Bischoff. Und sein nächstes Video werde genau diese Frage aufgreifen: Was ist eigentlich normal?
Alexander Nortrup / Christine Warnecke