Startseite Archiv Tagesthema vom 13. Dezember 2018

"Was im Leben wirklich zählt"

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Jugendliche diskutieren bei Schülerforum der Landeskirche was ihnen wichtig ist.

Lange üben mussten Constanze, Elena, Markus und Melina nicht, trotzdem wirkt ihr Auftritt eingeschliffen. Mit Mikros in der Hand stehen die Jugendlichen vom Otto-Hahn-Gymnasium Göttingen auf der Bühne vor fast 2000 anderen Jugendlichen und singen: „Ich wünsch‘ Dir Gottes Segen“. Es ist der musikalische Teil der Abschlussandacht beim diesjährigen Schülerforum der Landeskirche in Hannover.

Mit 14 Mitschülern aus dem Religionskurs von Lehrer Christian Kratzin haben die vier jungen Musiker die Abschlussandacht des Schülerforums gestaltet. „Wegen der Klausurphase konnten wir nicht viel üben“, erzählt Melina Krücke, eine der Sängerinnen. Ein paar Mal trafen sie sich zum Proben in den Schulpausen und ansonsten übte jeder für sich zu Hause. „Und Constanze am Klavier ist sowieso ein Naturtalent.“

Ganz unerfahren sind die vier nicht. Alle sind in einem Konzertchor ihrer Schule aktiv. Die Liedauswahl diskutierten die 17 und 18 Jahre alten Abiturienten zuvor im Religionskurs. Die Wahl fiel schließlich noch auf ein zweites Lied: einen irischen Reisesegen, den das Publikum beim Forum mitsang. Bei der Gestaltung hatten die Göttinger Schüler vonseiten der Landeskirche freie Hand.

„Wir als Veranstalter haben bewusst nach Schülern gesucht, die die Andacht gestalten“, erläutert Oberkirchenrat Marc Wischnowsky. „Wir wollten dass mehr von ihnen auf der Bühne präsent sind.“ Auch die vier Moderatoren der Eröffnung waren Schüler. Mit teils bissigen Fragen nach Arbeitswegen und Vorurteilen brachten sie Landesbischof Ralf Meister und Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track ins Grübeln. „Jugendliche stellen ganz andere Fragen als wir“, sagt Wischnowsky, der im Landeskirchenamt für den Bereich Schule und Hochschule zuständig ist. Und er ergänzt: "Die Schüler im Publikum sind sofort aufmerksamer, wenn da vorn jemand von ihnen steht."

Bild: Stefan Korinth

Die gut 20-minütige Andacht zum Ende des Forums hatte jedoch nicht nur Musik zu bieten, sondern drehte sich – genauso wie das Schülerforum insgesamt – um die Frage „Was zählt?“. In Workshops, Diskussionsrunden und in der Aktivhalle konnten die Jugendlichen zuvor den ganzen Tag über die wirklich wichtigen Dinge in ihrem Leben debattieren.

Die Göttinger Schülergruppe hatte hierzu eigens eine kleine Umfrage gestaltet. Mit vielen Dutzend Umfragezetteln ausgestattet, schwärmten die Mädchen und Jungen aus, um von ihren Altersgenossen zu erfahren, was ihnen im Leben am wichtigsten ist. Knapp 100 ausgefüllte Fragebögen brachte diese kleine Umfrage in nicht mal zwei Stunden hervor.

Bild: Stefan Korinth

„Viele Teilnehmer sind sehr hilfsbereit und ehrlich mit uns umgegangen“, erzählt Henri Marienhagen begeistert. „Sie haben sich wirklich Mühe gegeben, ihre Antworten zu begründen.“ Julia Tröger, ebenfalls aus dem Göttinger Reli-Kurs ergänzt: „Wir haben nicht damit gerechnet, dass alle, die wir ansprechen auch mitmachen.“ Nach der Mittagspause werteten die Göttinger Schüler die Umfrageergebnisse aus und bauten sie schnell und gekonnt in ihre Abschlussrede zur Andacht mit ein.

Und was zählt nun für die heutige Jugend wirklich? Geld, Likes und Aussehen sind nicht ganz unwichtig. Aber entscheidend sind Familie und Freundschaften. Mehr als die Hälfte aller Teilnehmer erklärten diese Themen zu den wichtigsten. Dann wurde es individuell: Auch Frieden, Gesundheit, Freizeit und Musik wurden von den teilnehmenden Jugendlichen häufig genannt. Das Thema Kirche und Glaube jedoch tauchte lediglich in drei Antworten auf.

Bild: Stefan Korinth

Das Veranstaltungsangebot des Schülerforums orientierte sich an der großen Individualität und bot ganz verschiedene Themenbereiche. Von Cybermobbing und Stilberatung über industrielle Tierhaltung und sexuelle Orientierung bis zu Selbstverteidigung oder der Frage nach einer zweiten Chance für kriminelle Jugendliche reichte die Palette. In einem Poetry Slam präsentierten junge Leute auf der Bühne ihre Lebenseinsichten in witziger, gereimter und tiefschürfender Art; in einer Aktivhalle konnten etwa Zirkuskunststücke oder ein Rollstuhlparcours ausprobiert werden.

Die Göttinger Gruppe, die zum ersten Mal beim Schülerforum war, bekam von all dem nur einen Teil mit. „Es ist schon blöd, dass die Workshops so schnell voll waren. Da konnte man dann nicht mehr rein“, meinte Henri. Soundprobe und Umfrage forderten an dieser Stelle ihren Tribut. Doch das einmalige Erlebnis einer Abschlussandacht vor fast 2000 Menschen im Publikum hatten die Abiturienten aus Göttingen ganz für sich. Das zählt.

Stefan Korinth
Bild: Stefan Korinth

"Besser als Schule"

Moderator Carlo grinst, als er das Gespräch von zwei Jugendlichen auf dem Weg zum evangelischen Schülerforum in Hannover wiedergibt. "Das wird bestimmt langweilig", sagte der eine, daraufhin der andere: "Ja, aber besser als Schule". Besser als Schule - das scheint die ganztätige Veranstaltung der hannoverschen Landeskirche tatsächlich zu sein. Knapp 2.000 Jugendliche haben sich versammelt, um darüber zu diskutieren, was im Leben wirklich zählt. Seit 2006 lädt die Kirche Jugendliche aus ganz Niedersachsen zu diesem besonderen Tag ein. Doch diesmal ist der Ablauf etwas anders.

Es sind Heranwachsende wie der 17-jährige Carlo, die Landesbischof Ralf Meister und der evangelischen Schuldezernentin Kerstin Gäfgen-Track Fragen stellen, die es in sich haben: Wann haben Sie sich zuletzt für etwas entschuldigt? Wann haben Sie ein Vorurteil aufgegeben? Was machen Sie, was wirklich zählt? "Ich entschuldige mich am laufenden Band", sagt Meister, "denn wir sind alle Menschen und machen Fehler". Nur wenn Menschen es vertuschen wollten, dann raste er aus.

Gäfgen-Track erzählt von ihrer Begegnung mit einem syrischen Pastor. Als er über sein Land sprach, habe sie ihre Vorbehalte aufgegeben, dass in Syrien nur Leid herrsche: "Plötzlich konnte ich auch die Hoffnung sehen." Die Worte der beiden finden beim jungen Publikum Nachhall.

In Workshops, Bühnenstücken, Ausstellungen und einem Poetry Slam sollten die Schüler ab der zehnten Klasse für sich herausfinden, womit sie ihr Leben füllen wollen. "Mit gutem Gewissen durchs Leben gehen", sagt Carlo aus Hildesheim. "Wertschätzen, was wir in Deutschland haben", sagt die gleichaltrige Felina. "Dass wir die Chancen, die wir bekommen, auch nutzen", sagt Abiturientin Meret aus Nordhorn. Und der 18-jährige Maik aus der Nähe von Gifhorn ergänzt: "Dass wir uns engagieren, um gemeinsam etwas zu erreichen".

Die Ausstellungen rund um das Schülerforum zeigen dieses Engagement. Sieben "Schülerfirmen" stellen sich dort vor, die Schüler selbst gegründet haben. An der hannoverschen Ganztagsschule IGS List stellen sie beispielsweise Honig her, am Göttinger Gymnasium Hainberg verkaufen sie fair gehandelte Macadamia-Nüsse von kenianischen Kleinbauern, "ohne Zwischenhändler", wie sie sagen. Am Missionsgymnasium St. Antonius in Bad Bentheim mischen sie gesunde Smoothies und verkaufen sie freitags in der großen Pause, und im Werkraum der Paul-Moor-Förderschule in Wunstorf entstehen seit dem Jahr 2016 Betonschalen, Magnete aus Glas, 3D-Sterne oder Bilder aus Holz.

Am evangelischen Schülerforum beteiligen sich inzwischen alle Schulformen, von Gymnasien bis zu berufsbildenden Schulen. Entsprechend ist das Angebot an Parallel-Workshops und geladenen Gastrednern auch fast überwältigend. Doch wenn die junge Moderatorin Meret Oberlandeskirchenrätin Gäfgen-Track fragt, zu welchen Workshop sie selbst gehen würde, antwortet diese: "Ganz klar, zu dem, der heißt: Ich möchte die Welt verändern".

epd-Landesdienst Niedersachsen-Bremen
Bild: Stefan Korinth