Startseite Archiv Tagesthema vom 23. Oktober 2018

„Holocaust – was geht mich das heute an?“

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Gemeinsame Exkursion von Evangelischer Jugend und DITIB-Jugend in die Gedenkstätte Bergen-Belsen

„Wir treiben alle Sport, lesen viel, studieren, mögen Reisen und verbringen gern Zeit mit unserer Familie und Freunden.“ Eine Viertelstunde lang haben Leander, Beate und Zeynep Zeit gehabt, fünf Gemeinsamkeiten herauszufinden. Die kleine Aufgabe diente nicht nur dem Kennenlernen, sondern auch der Annäherung zwischen Christen und Muslimen, genauer gesagt zwischen Mitgliedern der Evangelischen Jugend der Landeskirche Hannovers und des DITIB Landesjugendverbandes (Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion e.V.) in Niedersachsen/Bremen.

„Holocaust – was geht mich das heute an?“ - unter diesem Titel waren christliche und muslimische Jugendliche zur Besichtigung der Gedenkstätte Bergen-Belsen eingeladen. Die Veranstaltung fand im Rahmen des Projektes „Junge Muslime als Partner“ unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland statt. Durch das Projekt verbindet die Evangelische Jugend und die DITIB Jugend seit 2015 eine Kooperation in der sie gemeinsame Aktionen durchführen.

Am 13. Oktober sind so 16 Jugendliche und junge Erwachsene aus Aurich, Papenburg, Osnabrück, Wolfsburg, Hannover und anderen Orten angereist, um mehr über das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen zu erfahren, das ab 1940 zunächst Kriegsgefangenen-, später dann Austauschlager, hauptsächlich für Juden mit doppelter Staatsbürgerschaft, war. Von den hier festgehaltenen rund 14.000 Austauschhäftlingen seien aber nur etwa 2500 wirklich gegen im Ausland inhaftierte Deutsche, Geld oder Waffen ausgetauscht worden, berichtet Gesa Lonnemann. Die Referentin der Netzwerkstelle für jugendpolitische Bildung bei der Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Jugend in Niedersachsen (aejn) gibt nach der Kennenlern-Runde eine Einführung in die Geschichte des Lagers Bergen-Belsens.

Die Gebäude des ehemaligen KZ Bergen-Belsen wurden kurz nach der Übernahme durch die britische Armee niedergebrannt. Anhand eines Modells verschaffen sich die Jugendlichen der beiden Jugendverbände einen Eindruck, wie das Lager ausgesehen hat. Bild: Susanne Zaulick

Das Motiv, an der Veranstaltung teilzunehmen, ist bei den zehn evangelischen und sechs muslimischen TeilnehmerInnen in etwa dasselbe: Alle haben bereits andere Gedenkorte des Holocaust besucht und wollen mehr erfahren über das, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland passiert ist. Dass sie dabei auch „neue Leute“  anderen Glaubens kennenlernen, ist durchaus willkommen. Die religionsgemischten Dreier- oder Vierergruppen, die während der Vorstellungsrunde gebildet wurden, bleiben während des Rundganges bestehen und bekommen für die Wegstrecken auf dem weitläufigen Gelände nach jeder Station neue Anregungen für Gesprächsthemen. „Könnt ihr verstehen, warum Menschen wegeschaut haben? Wo werden heute Menschenrechtsverletzungen gesellschaftlich 'geduldet', ignoriert, nicht kommentiert?“, lautet eine der Impulsfragen, nachdem Gesa Lonnemann an den Fundamentresten der „Entlausungsbaracke“ - nur einen Steinwurf entfernt von der Landstraße zwischen Bergen und Winsen – die erniedrigenden Abläufe an diesem Ort geschildert hat, die anhand von  Tagebuchaufzeichnungen ehemaliger Häftlinge dokumentiert sind.

Über 50.000 Menschen haben das Lager Belsen nicht überlebt. Umgekommen sind sie, weil sie unter katastrophalen hygienischen Bedingungen eingesperrt und nicht ausreichend ernährt wurden. „Auch so kann man Menschen ermorden“, sagt Gesa Lonnemann.

Gesa Lonnemann zeigt, wie Jugendliche des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM) vor einigen Jahren Steine mit Namen von Opfern versehen haben, um sie so vor dem Vergessen zu bewahren. Bild: Susanne Zaulick

Kann Religion davor schützen, solche Taten zu begehen? Davon sind die Gläubigen beider Religionen fest überzeugt. „Jede Religion ist im Kern friedlich“, sagt Sümeyra Kilic, die als Vorsitzende des Landesjugendverbandes der DITIB die Veranstaltung gemeinsam mit Franziska Horn, Jugendbildungsreferentin der Evangelischen Jugend, vorbereitet hat. Nasuh Bellikli, der gemeinsam mit Sümeyra Kilic an der Spitze des niedersächsischen DITIB-Landesjugendverbandes steht, ergänzt: „Wenn Religion missbraucht wird für politische Zwecke, kann es dazu kommen, dass Menschen andere Menschen als minderwertig ansehen.“  Terror entstehe aber nicht durch Religion, sondern durch Politik.

Auch die evangelischen Jugendlichen glauben daran, dass ihre Religion friedenstiftend ist. „Ich bin der Meinung, dass man als Christ alle Menschen gleich behandeln sollte“, meint Alexander Peters von der Evangelischen Jugend Wolfsburg. Irgendwie seien doch alle Götter miteinander verbunden. „Vielleicht sind es nur unterschiedliche Namen für die gleiche Sache“, ergänzt Leander ter Horst. Die Unterschiede, meint der 19-jährige Kfz-Mechatronik- und Informatikstudent, seien gar nicht so groß.

Susanne Zaulick
Innehalten am jüdischen Mahnmal: Evangelische Christen und Muslime gedenken gemeinsam der in Bergen-Belsen ums Leben gekommenen Juden. Bild: Susanne Zaulick

Gedenkort Bergen-Belsen

Bis Ende Mai 1945 brannten die Briten wegen der Seuchengefahr die Holzbaracken im befreiten KZ Bergen-Belsen nieder. Zudem ließen sie Massengräber anlegen und kennzeichnen. 

Auf Anordnung der britischen Militärregierung wurde ein Teil des Geländes als Gedenkstätte gestaltet. 1952 weihte Bundespräsident Theodor Heuss eine Denkmalsanlage mit Obelisk und Inschriftenwand ein.

Heute ist Bergen-Belsen ein internationaler Gedenkort und zugleich Bildungs- und Forschungsstätte mit Dauerausstellung, Archiv, Bibliothek und einem breit gefächerten Lern- und Vermittlungsangebot.

Gedenkstein auf dem ehemaligen Lagergelände. Bild: Klaus Tätzler, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten