„Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“

2019 hat Ansgar Gilster den Verein „United4Rescue“ mitgegründet. Ein Interview zum Weltflüchtlingstag
Blick von oben: Zwei Menschen auf einem Schiff helfen einem anderen aus einem Schlauchboot hinauf.
Bild: Leon Salner/United4Rescue

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) unterstützt im Bündnis „United4Rescue“ die zivile Seenotrettung aus Spenden und Fördermitteln von Personen und Organisationen, die helfen wollen.

Eine männlich gelesene Person mit kurzen blonden Haare und blauem Hemd lächelt.
Bild: Jens Schulze
Ansgar Gilster hat den Verein „United4Rescue – Gemeinsam retten“ mitgegründet.

Herr Gilster, jeden Tag fliehen Menschen übers Mittelmeer nach Europa. Wie viele von ihnen überleben die Flucht nicht?

Ansgar Gilster: Das zentrale Mittelmeer ist die tödlichste Fluchtroute der Welt. Voriges Jahr starben nach offiziellen Zählungen rund 3.150 Menschen, in diesem Jahr bereits mehr als 900. Wir gehen allerdings von einer hohen Dunkelziffer aus. Fast täglich gibt es Notfälle – und fast täglich unterlassene Hilfeleistung. Die europäischen Regierungen tun alles Mögliche, um die zivile Seenotrettung systematisch zu behindern, zu diffamieren und zu kriminalisieren – oder auch an den Landgrenzen Schutzsuchende abzuwehren.

Welche Steine werden den Helfenden in den Weg gelegt?

Gilster: Zum Beispiel werden ständig Vorgaben und Vorschriften verändert. Inspekteure drehen stundenlang ein Schiff auf links, um vermeintliche Mängel zu finden: Dann heißt es etwa, es würden sich zu viele Schwimmwesten an Bord befinden oder ein Lüftungsschacht sei falsch beschriftet. Die neueste Taktik ist das seit anderthalb Jahren in Italien bestehende Piantedosi-Dekret, benannt nach dem italienischen Innenminister. Es besagt unter anderem, dass Schiffe nach einer Rettung sofort einen ihnen zugewiesenen Hafen anlaufen müssen. Die Rettungsleitstelle in Rom weist diese Häfen zu. Nur liegen diese Häfen niemals in der Nähe der Einsatzorte, also zum Beispiel auf Sizilien. Sie liegen in der Regel weit im Norden Italiens.

In Dunkelheit helfen Menschen anderen mit Schwimmwesten aus einem Schlauboot auf ein Schiff.
Jeder einzelne Euro hilft.

Die Rettungsschiffe müssen also unnötige Umwege fahren?

Gilster: Das Kalkül ist, die Schiffe einerseits aus den Einsatzgebieten fernzuhalten und andererseits die Kosten in die Höhe zu treiben. Denn jeder Tag auf See ist teuer. Ein etwa vierwöchiger Einsatz kostet rund 250.000 Euro. Die weiten Wege vervielfältigen das nochmal. Die Rettungsorganisation hat ausgerechnet, dass im vergangenen Jahr die zivile Rettungsflotte 374 Einsatztage verlor und die Schiffe eine Strecke dreieinhalbmal um die Welt unnütz gefahren sind. Mitunter sind durch die Behinderungen wochenlang gar keine Rettungsschiffe im Einsatz, weil alle Schiffe festgesetzt sind oder sich in der Werft befinden. Die Strategie stammt vor allem von der italienischen Regierung, letztlich tragen aber alle EU-Staaten diese tödliche Politik der Abschottung. Die Folge ist, dass mehr Menschen sterben. Es werden ja immer wieder Tote an den Küsten angespült oder in Fischernetzen gefunden. Die Fischer selbst retten Flüchtlinge in Not allerdings, das rührt aus alter Seemannstradition her.

Wie viele Menschen erreichen die Küste lebendig und woher kommen sie?

Gilster: Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Ländern – aus Syrien, Bangladesch, Mali, Sudan oder Pakistan und fliehen von Nordafrika: über Libyen und in jüngster Zeit verstärkt auch Tunesien. Dort nimmt die rassistische Gewalt gegen Menschen aus anderen Ländern stark zu. Und auch tunesische Staatsangehörige fliehen verstärkt aus ihrem Land. Mehr als 90 Prozent der Bootsflüchtlinge erreichen selbständig die europäische Küste, das waren voriges Jahr rund 158.000 Menschen. Die Anzahl der von den zivilen Rettungsschiffen Geretteten an den ankommenden Flüchtlingen ist dagegen verschwindend gering. Da sprechen wir von einigen Tausend Menschen, keine sieben Prozent der Ankommenden im Zeitraum 2018 bis 2023. Die Menschen kommen natürlich auch an Urlaubsorten an. Wenn Sie in Italien, auf Lampedusa vor allem, am Strand liegen, kann es Ihnen passieren, dass ein Boot mit Flüchtlingen die Küste erreicht. 

Kann das Mittelmeer denn überhaupt noch ein Urlaubsziel sein?

Gilster: Italien und seine Küsten sind wunderschön. Aber die Landschaft und das Meer haben ihre Unschuld verloren. Das Meer ist kontaminiert durch die Politik, die betrieben wird. 

Als die EKD vor sieben Jahren entschied, sich an der zivilen Seenotrettung zu beteiligen, war diese Entscheidung nicht unumstritten. Gibt es heute immer noch Gegner des kirchlichen Engagements?

Gilster: Kaum. Aus der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wissen wir sogar: Eine breite Mehrheit, 77 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder, erwartet von ihrer Kirche, dass sie sich konsequent für Flüchtlingsschutz engagiert. Anfangs gab es lautstarke Kritik und auch Häme von einzelnen, wie wir das eigentlich schaffen wollen: ein Rettungsschiff ins Mittelmeer schicken. Heute, fünf Jahre nach Gründung, haben die United4Rescue-Bündnisschiffe mehr als 7.700 Menschen das Leben gerettet. United4Rescue hat den Kauf von drei Schiffen ermöglicht und steht kurz vor der Anschaffung eines vierten Schiffs. Für Christinnen und Christen kann die Frage nicht ernsthaft zur Disposition stehen, ob man Menschen aus Lebensgefahr rettet. Weil Gott das Leben will, jeder Mensch eine geschenkte Würde und das Recht auf Leben hat. Weil man hilft: Das ist christliche Pflicht und humanitäre Verpflichtung. Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.

Wann kommt das vierte Schiff?

Gilster: Wir hoffen, schon in diesem Sommer die ersten Einsätze mit der SEA-EYE 5 fahren zu können. Noch bis Ende Juni läuft der Spendenaufruf für den Schiffskauf. Die SEA-EYE 5 ist auch unsere Antwort auf die sogenannte libysche Küstenwache: kriminelle Milizen, von der EU unterstützt, die Menschen erst einen Platz auf einem Schlepperboot verkaufen, sie dann aber selbst wieder einfangen und zurück nach Libyen verschleppen. Und sie ist unsere Antwort auf das Dekret der italienischen Regierung. Man kann die SEA-EYE 5 nicht zu sehr weit entfernten Häfen schicken, weil sie über eine kleinere Reichweite verfügt. Außerdem ist die SEA-EYE 5 enorm schnell und sehr kosteneffektiv. Ein deutscher Rettungskreuzer, speziell für die Seenotrettung gebaut und bislang für die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger im Einsatz. Besser geht es nicht. 

Wie kann man helfen?

Gilster: Einerseits durch jeden einzelnen Euro. Ob per Spendenaktion, Kollekte in der Gemeinde oder Privatspende, egal in welcher Höhe. Eine große Hilfe ist es aber auch schon, dem Thema überhaupt Beachtung zu schenken. Darüber zu sprechen, es nicht zu ignorieren. Das allein ist schon sehr viel wert.

Ein rotes Boot auf dem Meer.
Bild: Leon Salner/United4Rescue
Jedes Jahr ertrinken tausende Menschen im Mittelmeer.
Carolin George / EMA