Vor 500 Jahren wurden die ersten evangelischen Gesangbücher gedruckt, Tausende Ausgaben sollten folgen. Im Laufe der Zeit ist ein kultureller Schatz von immenser Wirkkraft entstanden.
Hannover. Selbst wenn heute weniger gesungen wird: Das evangelische Gesangbuch ist keine Sache für verstaubte Kirchenarchive. Vor 500 Jahren begann mit den ersten gedruckten Exemplaren seine einzigartige Geschichte. Ein „Grundbuch des Protestantismus“ nennt es der Kieler Theologieprofessor Johannes Schilling. Darüber hinaus aber ist es ein Liederbuch, das die deutsche Sprache, Literatur und Musik über Jahrhunderte stark beeinflusst hat. Und dies immer noch tut.
Christian Lehnert, der als einer der sprachmächtigsten deutschen Gegenwartslyriker gilt, spricht von einem „großen Reichtum“, einem „Schatz“. Bei der ersten Begegnung habe die Sprache des Gesangbuchs „höchstes Befremden“ bei ihm ausgelöst, sagt der in der DDR sozialisierte Autor: „Das Gesangbuch ist für mich ein Widerhaken in sprachlichen Konventionen, es spricht eine Sprache, die sonst nirgendwo so gesprochen wird.“ Als Dichter staunte Lehnert zugleich darüber, „wie das Versmaß durch den Atem des Singens entstanden ist“. Das Gesangbuch sei ein Lehrbuch für die Verbindung von Sprache und Musik.
Von Anfang an waren in den Drucken Melodien verzeichnet. Das gilt auch für das „Achtliederbuch“, das der Nürnberger Drucker Jobst Gutknecht um die Jahreswende 1523/24 herausgab. Das Büchlein enthielt bereits vier Lieder von Martin Luther (1483-1526), darunter die Nachdichtung des 130. Psalms „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Kurz darauf kam in Erfurt das „Enchiridion“ (Handbüchlein) heraus, versehen mit polemischen Seitenhieben gegen den alten Kirchengesang („Geschrei der Baalspriester“) – die weltweit einzige erhaltene Kopie eines dieser Werke lagert in Goslar. Und noch im selben Jahr erschien in Wittenberg das „Geistliche Gesangsbüchlein“ des Kantors Johann Walter mit 43 Liedern nebst Vorwort des Reformators. Es gilt als erstes Chorgesangbuch.
Bis zur Reformation sangen die Gemeinden während des Gottesdienstes keine geistlichen Lieder in der Volkssprache. Wie die Reformation dann den Gemeindegesang aufleben ließ, beschreiben der Kirchenhistoriker Schilling und die Theologin Brinja Bauer in ihrem Buch „Singt dem Herrn ein neues Lied“ (2023). Demnach gab es zwar schon im Mittelalter volkstümliche „Cantiones“ (Gesänge). In der katholischen Messe war das Singen der lateinischen Liturgie jedoch den Priestern vorbehalten. Dies sollte sich grundlegend ändern.
Wer die frohe Botschaft des Evangeliums glaubt, „der kans nicht lassen, er muß fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herkomen“, war Luther überzeugt. Für ihn war das Singen ein frommer Weg zu Gott.
Programmatisch schrieb er um 1523/24 an Georg Spalatin, den Sekretär des sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen: Er, Luther, habe den Plan, nach dem Beispiel der Propheten „deutsche Psalmen für das Volk zu schaffen, das heißt, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibt.“
Zunächst hatten den Kirchenhistorikern zufolge nur wohlhabende städtische Bürger ein Gesangbuch, während die Ärmeren und weniger Gebildeten die Lieder, die Schulmeister und Kantoren ihnen beibrachten, auswendig lernten. Doch mit der Schulbildung wuchs stetig auch die Nachfrage nach den Büchern. Im 19. Jahrhundert besaß nahezu jede Familie ein Gesangsbuch – und damit viel mehr als eine Liedersammlung, sondern ein Erbauungsbuch für alle Tage, Jahreszeiten und Feste, Glauben und Zweifel, Leben und Tod.
Seine Blütezeit erlebte das Gesangbuch in der Barockzeit. Der Dichter Paul Gerhardt spendete mit Liedern wie „Befiehl Du Deine Wege“ und „Geh aus mein Herz“ angesichts von Entbehrungen und Grauen im 30-jährigen Krieg (1618-1648) Trost und Hoffnung. Die Tradition der Trostlieder setzte sich über die Pietisten und ihre Jesus-Lieder fort bis zu Dietrich Bonhoeffers in Gestapo-Haft verfasstes Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“.
In fünf Jahrhunderten entstanden laut Schilling – bedingt durch die deutsche Kleinstaaterei – zwischen 7.000 und 8.000 evangelische Gesangbuch-Ausgaben. Dennoch trug das weit verbreitete protestantische Liedgut zur Gestaltung einer deutschen Literatursprache bei. „Das Gesangbuch hat die Literatur durchdrungen“, sagt Schilling.
Eine erste nationale Ausgabe kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg heraus: Das „Evangelische Kirchengesangbuch“ wurde ab 1950 eingeführt. Etwa 40 Jahre später erschien – modernisiert und um neuere Lieder ergänzt – das „Evangelische Gesangbuch“, das heute noch in Gebrauch ist. Inzwischen befasst sich eine Kommission der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit einer weiteren Revision: Es soll eine Print- und eine umfassende Digital-Ausgabe geben. Um Textbearbeitung und Kanon wird hart gerungen.
Kirchenhistoriker und Dichter sind sich einig in dem Wunsch, es möge im neuen Gesangbuch eine „kulturelle Kontinuität“ (Schilling) erhalten bleiben und keine Abstriche an der literarisch-künstlerischen Qualität geben. Die „Tiefendimension religiösen Singens“ und sprachliche „Widerborstigkeit“ müssten bewahrt werden, wünscht sich Christian Lehnert. Natürlich sollten die Texte zugänglich sein, aber sie sollten auch „ein Potenzial an Unerwartetem“ bereithalten. Und Schilling ist wichtig, dass es erneut ein „Lebensbuch“ wird.