„Wer die Hoffnung auf Frieden aufgibt, hat vor dem Krieg kapituliert“
Hannover. Gerade in Zeiten vermehrter kriegerischer Auseinandersetzungen darf die Hoffnung auf Frieden nicht sterben – das fordert der hannoversche Landesbischof Ralf Meister. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht der Leitende Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) über die Gewalt im Nahen Osten und der Ukraine, über Herausforderungen in der Migrationspolitik – und über seine Idee eines Gütesiegels für „Orte gegen Antisemitismus“.
2023 war kein Jahr der guten Nachrichten. So hat sich gezeigt, wie stark der Antisemitismus in Deutschland tatsächlich noch ist – und wie eher schwach dagegen die Solidarität mit Jüdinnen und Juden. Wie kann das sein?
Ralf Meister: Der Antisemitismus ist eine Geißel der Menschheit, ein Urbild von Verachtung und Erniedrigung, das tief in vielen Menschen wurzelt, obwohl sie keine persönlichen Erfahrungen mit Menschen jüdischen Glaubens gemacht haben. Das beste Rezept, diese irrationale Hassfantasie zu überwinden, ist Begegnungskultur. Wir sollten Jüdinnen und Juden mit Offenheit und Neugier begegnen, wir sollten das Land Israel bereisen und jüdische Feste besuchen wie jüngst das Entzünden der Kerzen zu Chanukka. Diese konkreten Erfahrungen von Mensch zu Mensch halte ich für mindestens ebenso wichtig wie Bildungs- und Aufklärungsmaßnahmen.
Sie haben ein Gütesiegel angeregt, das Kirchengemeinden würdigt, die sich gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens einsetzen. Zieht Ihre Idee schon größere Kreise?
Meister: Eine Arbeitsgruppe der hannoverschen Landessynode, unseres Kirchenparlaments, befasst sich derzeit damit. Ich bin zuversichtlich, dass dort zeitnah die Voraussetzungen für ein solches Siegel erarbeitet werden und wir bald erste Ergebnisse sehen. Das Siegel, so wäre mein Wunsch, soll Orte für Jüdinnen und Juden kenntlich machen, an denen sich Menschen gegen Antisemitismus stellen und jüdisches Leben in unserer Gesellschaft bestärken.
Zudem fände ich es wichtig, in einem nächsten Schritt nicht nur kirchlich engagierte Orte stärker sichtbar zu machen. Es wäre ein starkes Zeichen, ein solches Siegel gehäuft im öffentlichen Raum vorzufinden. Ähnlich den „Stolpersteinen“, die auf unsere unheilvolle Geschichte und unsere bleibende Verantwortung verweisen, wäre es ein Ausdruck, dieser Verantwortung auch in Zukunft sichtbar gerecht werden zu wollen.
Vor knapp 30 Jahren, als der damalige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin und der Palästinenser-Führer Jassir Arafat gemeinsam den Friedensnobelpreis erhielten, schien Frieden im Nahen Osten möglich. Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober tobt in der Region ein Krieg, der schlimmer ist als die bisherigen Konflikte. Haben Sie überhaupt noch Hoffnung, dass Frieden und Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern möglich sind?
Meister: Wenn wir aufhören, auf den Frieden zu hoffen, kapitulieren wir vor dem Krieg. Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich gerade nach diesem Pogrom der Hamas, der den massiven Verteidigungskrieg der israelischen Armee ausgelöst hat, ein tieferes Einsehen zeigt: dass Frieden alternativlos ist.
Wir erleben immerhin, dass wieder intensiver über eine Zweistaatenlösung diskutiert wird. Unter Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu wurde das nahezu 25 Jahre lang nicht mehr seriös verfolgt. Angesichts des Drucks, unter dem seine Regierung derzeit steht, könnte es möglich sein, dass absehbar ein Waffenstillstand und langfristig eine Zweistaatenlösung zu stabiler Koexistenz führen könnten. Nur auf dieser Grundlage können echter Frieden und Aussöhnung wachsen. Das allerdings wird ein langer, generationenübergreifender Weg sein.
Ein weiterer Krieg wütet seit fast zwei Jahren in der Ukraine. Viele Kirchenvertreter haben sich dafür ausgesprochen, das Land bei der Verteidigung gegen Russland militärisch zu unterstützen. Ist es jetzt, da dieser Konflikt auf einen Zermürbungskrieg hinausläuft, nicht an der Zeit, sich für eine Verhandlungslösung anstatt für Waffenlieferungen einzusetzen?
Meister: Angesichts dieses despotischen Angriffs auf die Ukraine stand es für mich außer Zweifel, dass sich die Ukraine verteidigen können muss. Was wären die Alternativen gewesen? Dabei zusehen, wie Putin das Land zerstört und die Freiheitsrechte einer demokratischen Gesellschaft ruiniert?
Viele Kirchenvertreterinnen und -vertreter, mich eingeschlossen, haben sich von Anfang an für diplomatische Lösungen eingesetzt – und tun dies weiterhin. Je länger dieser Krieg dauert, je weniger ihn eine Seite für sich entscheiden kann, desto größer werden womöglich die Chancen, dass sich die Tür für Verhandlungen öffnet. Die Menschen müssen in der Ukraine dauerhaft in Frieden und Freiheit leben können.
Auch die Zuwanderung war einmal mehr ein großes Thema. Schon länger klagen Länder und Kommunen über kaum zu bewältigende Flüchtlingszahlen, nun will die EU das Asylrecht deutlich verschärfen. Die Kirchen vertreten hingegen eher eine „Politik der offenen Arme“. Verstehen Sie sich mehrende Sorgen, dass Deutschland den Zustrom absehbar nicht mehr bewältigen könnte?
Meister: Natürlich verstehe ich diese Sorgen. Ich höre die Stimmen aus den Kommunen und von Landräten, und wir müssen angemessene, menschenwürdige Lösungen finden. Doch ich wage einen Blick über die kurzfristige realpolitische Perspektive hinaus. Es zeigt sich, dass wir angesichts von Klimawandel, wachsender Weltbevölkerung und schwieriger wirtschaftlicher Perspektiven im Globalen Süden erst am Anfang viel größerer Migrationsbewegungen stehen. Gegen die wird uns keine abgeschottete Grenze sichern können. Wir werden uns ehrlich mit diesen gigantischen Herausforderungen und ihren Konsequenzen für unsere eigene Lebensweise auseinandersetzen müssen. Wer glaubt, dass schärfere Gesetze und geschlossene Grenzen das Problem dauerhaft lösen, macht sich falsche Hoffnungen.