„Ich wollte bei mir selbst ankommen."
Der Fährmann trägt Jeans und Lederweste, die Haare sind weiß, das Gesicht wettergebräunt. Durch die randlose Brille schaut Eckhard Kruse aus dem Steuerhaus der „Ilka“ konzentriert auf die Elbe. Wasserstand, Strömung, Wind, Schiffsverkehr - nichts darf ihm entgehen. Die Hände liegen auf zwei Hebeln, mit denen er Ausrichtung und Geschwindigkeit der beiden Schiffsschrauben steuert. Kleinste Handbewegungen genügen, um die 33 Tonnen schwere Autofähre zum anderen Ufer zu bringen.
„Du musst einen 360-Grad-Blick haben“, sagt der 67-Jährige. Der Wasserstand ist heute niedrig, der Schiffsverkehr in der Fahrrinne schon seit Tagen eingestellt. Zur Einschätzung des Windes orientiert sich der Fährmann an der Fahne, die gegenüber auf der Reling steckt. „Jede Fahrt ist individuell“, erklärt er.
33 Jahre lang war Kruse Pastor in Gartow im Landkreis Lüchow-Dannenberg, zuletzt gehörte auch der Fährort Schnackenburg zu seinem Gemeindegebiet. Bis 2019 war der Theologe außerdem Beauftragter der Landeskirche für Fragen rund um die atomare Endlagerung, hoch brisant wegen der Erkundung im benachbarten Gorleben. Im vergangenen Jahr ging Kruse in Ruhestand.
Erstes Projekt des Pensionärs: Mit dem eigenen Segelboot startete er von der Mecklenburgischen Seenplatte zu einer 800-Kilometer-Rundtour durch Norddeutschland, unter anderem über die Elbe und bis nach Berlin. „Ich wollte bei mir selbst ankommen, das war eine intensive Erfahrung“, erzählt der Pastor.
„Die Leute sollen die Fähre mit einem Lächeln verlassen – egal, wie sie an Bord gekommen sind.“
Und weil ihn Fähren „schon immer faszinierten“, absolvierte er ein Praktikum in Schnackenburg. Theoretische und praktische Ausbildung folgten. Vor Kurzem legte Kruse vor einer Kommission des Wasser- und Schifffahrtsamtes die Prüfung ab: als Steuermann in der Binnenschifffahrt und als Fährmann für die Elbquerung bei Schnackenburg. Seitdem verstärkt er als Aushilfe das festangestellte Team der „Ilka“.
„Die Hauptarbeit macht der Strom“, hat er gelernt. Denn zum Können des Fährmanns gehört es, das Schiff schräg zur Strömung zu legen. Die Elbe fließt hier mit rund sechs Stundenkilometern. Die Wasserkraft schiebt das Schiff in etwa vier Minuten über den Fluss, ohne dass die beiden 64-kW-Maschinen allzu viel Diesel verbrauchen. Ein Prinzip, das sich auch Seilfähren ohne Motor zunutze machen. Der Pastor bringt es auf den Punkt: „Wir überwinden den Strom nicht mit Kraft, sondern mit Gefühl.“
Die Schnackenburger Fähre, die Niedersachsen und Brandenburg verbindet, sei schon im Jahr 1410 erstmals urkundlich erwähnt worden, weiß Kruse. Seitdem sei sie immer gefahren. Abgesehen von einer Unterbrechung im Dreißigjährigen Krieg und von den Jahrzehnten der deutschen Teilung, als die Elbe Grenzfluss war.
Der Steuermann und Pastor will allerdings mehr, als das Schiff sicher über den Strom zu bringen. Ihm ist der Kontakt zu den Menschen wichtig. Ein Schnack mit Bekannten, ein paar Worte mit Radwanderern oder Wohnmobil-Touristen, einen Moment lang zuhören und ein guter Wunsch für den Weg - das kann Seelsorge im Alltag sein. Die schweigsameren Fährkollegen finden dann, Kruse rede zu viel. Aber der steht zu seinem Anspruch: „Die Leute sollen die Fähre möglichst mit einem Lächeln verlassen - egal, wie sie an Bord gekommen sind.“
Während die Fähre geruhsam übers Wasser gleitet, schweifen die Gedanken. Kruse sieht durchaus Parallelen zwischen seinen beiden Berufen: Der Fährmann begleitet den Übergang über einen Fluss, eine Grenze, zu neuen Ufern. Der Pastor segnet Menschen in Übergangssituationen des Lebens, etwa bei Taufe, Trauung oder Beerdigung.
In der Bibel hat der Theologe keine Fährleute entdeckt, wohl aber den Fluss als Symbol des Übergangs. Und was den Segler im Pastor besonders freut: Auch Jesus konnte offenbar mit dem Segelboot umgehen. Er sei allein über den See Genezareth gesegelt, was sich durch scharfsinnige Lektüre einer Passage im Matthäus-Evangelium belegen lasse.
Der Fährmann mit dem weiten Horizont hat auch einen weltlichen Helden: Siddharta, der Protagonist aus Hermann Hesses gleichnamigem Werk, beschließt seine Reise durch die Welt und zu sich selbst als weiser Fährmann. Auch für Eckhard Kruse eine Perspektive?
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