„Die Wunschoma kommt“, rufen die anderen Kinder, wenn Carmen Trentzsch den vierjährigen Enno aus der Kita abholt. Klingt ein bisschen so, als hätte sich Enno seine Oma selbst ausgesucht. Was nicht ganz falsch ist. Die Hildesheimerin hat Enno und seine Familie vor zwei Jahren zum ersten Mal getroffen. Danach war klar: Sie hat den Oma-Job.
„Carmen ist Gold wert“, sagt Karoline Ryll, Mutter von Enno und dessen sechsjähriger Schwester Ellah. Als die 40-Jährige vor fünf Jahren aus beruflichen Gründen nach Hildesheim zog, kannte sie hier niemanden und musste sich erst ein Netzwerk aufbauen. Unterstützung fand sie bei der Evangelischen Familien-Bildungsstätte, die ein Wunschgroßeltern-Speeddating veranstaltete. Die pädagogische Mitarbeiterin Katrina Teigeler leitet das Projekt „Zeit statt Blumen“ und kennt viele ähnliche Familienkonstellationen: „Entweder wohnen die Großeltern zu weit weg oder sie haben keinen Kontakt zu ihren Enkeln, zum Beispiel nach einer Trennung.“ Gerade in der Corona-Zeit seien viele Familien an ihre Belastungsgrenze gekommen.
10.000 Kilometer Luftlinie
Karoline Rylls Mutter kommt aus Schwerin und ist obendrein an den Wochenenden berufstätig. Für einen spontanen Betreuungseinsatz in Hildesheim ist das eher suboptimal. Obwohl sie im Vergleich zu den Großeltern väterlicherseits nur einen Katzensprung entfernt wohnt. Die leben nämlich in Mexiko, 10.000 Kilometer Luftlinie entfernt. Ennos und Ellahs Papa Miguel Sánchez Flores ist Wirtschaftsingenieur in der Automobilbranche, Karoline Ryll arbeitet als Nachhaltigkeitsberaterin. Die Familie ist schon oft umgezogen. Nun also Hildesheim.
Dort wohnt Carmen Trentzsch, nicht weit entfernt von Enno und Ellah. Wenn sie den Vierjährigen aus der evangelischen Markus-Kindertagesstätte abholt, kommt sie mit dem Fahrrad. Gemeinsam gehen sie dann zum Beispiel ins nahe gelegene Wildgatter, wo man nicht nur Ziegen, Waschbären, Hirsche und Greifvögel beobachten, sondern auch wunderbar spielen kann. „Ich habe keine eigenen Kinder, Enkel, Neffen und Nichten“, sagt die 68-Jährige, die von der Idee der Wunschgroßeltern aus der Zeitung erfahren hat. Bei einem Informationstreffen konnte sie selbst Wünsche äußern: maximal zwei Kinder, nicht älter als sechs Jahre. Dann die erste Begegnung mit Familie Sánchez Ryll. „Das hat gleich gepasst“, sagt Carmen Trentzsch.
Wie ein Teil der Familie
Seit August 2020 konnten auf diese Weise 22 Familien in der Region Hildesheim von dem Angebot profitieren, auch durch die Pandemie hindurch. Die „Großeltern“ arbeiten ehrenamtlich. Sie holen Kinder aus der Kita oder der Schule ab, gehen mit ihnen zum Arzt, machen Ausflüge, spielen oder lesen vor. Es geht nicht um eine dauerhafte oder nächtliche Betreuung, auch nicht um Haushaltshilfe. Aber wenn junge Eltern für einige Stunden in der Woche Zeit für die Arbeit, eigene Besorgungen oder auch sich selbst gewinnen, ist allen geholfen.
Carmen Trentzsch ist auf diese Weise ein Teil der Familie geworden. Sie wird zu Geburtstagen eingeladen und war auch mit beim Elternabend für Ellahs Einschulung. Werden da nicht die „echten“ Großeltern eifersüchtig? Das sei durchaus in manchen Familien ein Thema, weiß Katrina Teigeler. „Wir haben sie vorbereitet“, sagt Karoline Ryll. Aber Mexiko ist halt nicht um die Ecke.
Und Wunschoma Carmen will ja niemandem den Platz streitig machen. „Ich habe auch noch andere Hobbys“, sagt die fitte 68-Jährige und lacht. Sie treibt viel Sport, reist gern und singt im Chor. Umso lieber kümmert sie sich daneben um ihre Wunschenkel.