„Es ist etwas ins Rutschen gekommen“
Seit Wochen gehen in Niedersachsen und bundesweit Hunderttausende auf die Straßen, um für Demokratie und gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Nicht nur in den großen Städten, auch im ländlichen Raum zeigen die Menschen Gesicht. Unser Foto zeigt eine Szene aus Osterode, wo am Sonntag rund 2.000 Menschen zusammenkamen. EMA-Redakteurin Christine Warnecke fragte den Friedensbeauftragten der Landeskirche, Felix Paul, nach den langfristigen Wirkungen der Protestaktionen.
Herr Paul, wie sehen Sie die Demos, die in diesen Wochen Hunderttausende auf die Straßen bringen?
Paul: Die schiere Masse ist natürlich beeindruckend. Außerdem ist es äußerst ermutigend, vor allem, weil es nicht nur eine Gruppe ist, sondern wir eine ganz breite, vielfältige Beteiligung sehen. Es ist ein Querschnitt der Gesellschaft, der aktiv ist. Ich war in Halle (Saale) und Hannover dabei und dass teils zehnmal mehr Menschen gekommen sind als geplant, macht wirklich Mut.
Auch Kirchen sind dabei. Wie sehen Sie Social-Media-Aktionen wie #ChristinnenGegenRechts – ein Bild, auf das viele Menschen ihr Gesicht gesetzt und dies gepostet haben? Ist das jetzt nur Aktivismus oder bringt das tatsächlich etwas?
Paul: Es ist auf jeden Fall gut, Gesicht zu zeigen, dabei zu sein, klare Aussagen zu treffen und breite Bündnisse zu bilden. Natürlich haben solche Massendemos oder Statements in Social Media im Normalfall eine begrenzte Halbwertszeit, werden also voraussichtlich etwas abflauen, aber es ist eine große Chance: Wenn wir es schaffen, das Engagement von der Straße in längerfristiges Engagement in einem Verein, im Freundeskreis oder anderen Gruppen zu übertragen, gewinnen wir gesellschaftlich sehr viel. Wenn nur ein Bruchteil der Demonstrierenden sich weiter engagiert, haben wir doch schon etwas gewonnen. Daneben steht auch die Erkenntnis, dass es geht: dass man absolut friedlich für etwas sein kann, dass man Grenzen ohne Gewalt setzen kann, dass es etwa keine Option ist, jetzt über „Remigration“ auch nur zu diskutieren. Es gibt Grenzen und die definieren die Demonstrierenden hier gerade ganz klar. Der nächste Schritt wäre dann, aktiv zu formulieren: Wie wollen wir denn unser Zusammenleben gestalten? Es ist etwas ins Rutschen gekommen und ich hoffe, dass es so weitergeht.
Sie haben davon gesprochen, den Schwung aus den Demos quasi in dauerhaftes Engagement für die Gesellschaft zu leiten – welche Rolle sollten die Kirchen, die Gemeinden dabei spielen?
Paul: Sie haben die große Möglichkeit, Räume für das Weiterdenken zu bieten: Von der Demo gegen rechts zu längerfristigem Engagement für etwas. Und dieses Etwas wäre erstmal zu definieren: Wie wollen wir zusammenleben, wie stellen wir uns unsere Gesellschaft vor? Wie können wir aktiv daran arbeiten? Die Kirchen können dafür ihre Räume öffnen: für Cafés, Diskussionsrunden, Infoveranstaltungen, warum nicht mal ein Demokratiefest feiern? Oder Aktionen planen zu Gedenktagen wie etwa zum Tag der Menschenrechte. Gottesdienstentwürfe, Banner und weitere Materialien haben wir dazu schon bereit. Derzeit haben wir vermehrte Anfragen und drucken fleißig nach. Manches entwickelt sich auch neu, zum Beispiel sollen die „10 Thesen von Christ:innen gegen Rechtsextremismus“ nun in Zusammenarbeit mit der Pestalozzi-Stiftung in leichter Sprache aufgelegt werden. Wir unterstützen Gemeinden gern und sind für neue Ideen ansprechbar. Viele Menschen haben diese Wochen gemerkt, wie viel möglich ist. Sie sind ins Handeln gekommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das breite Engagement der lauten Mehrheit nicht ungehört und ungenutzt verhallen wird.