Eine Studie belegt, was sich mit der Rekordzahl an Kirchenaustritten schon zeigt: Kirche verliert an Rückhalt – sogar schneller als bis jetzt vermutet. Die Hoffnung will das evangelische Führungspersonal dennoch nicht aufgeben.
Ulm. Die Deutschen wenden sich schneller von den Kirchen ab als bislang erwartet. Wenn sich der aktuelle Trend der Austritte fortsetzt, könnten bereits in den 2040er Jahren nur noch halb so viele Menschen einer Kirche angehören wie noch im Jahr 2017. Das geht aus der am Dienstag in Ulm vorgestellten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hervor. Bisherige Prognosen hatten diese Entwicklung für das Jahr 2060 vorhergesehen.
Nicht nur die Kirchenbindung geht laut der Studie zurück, auch die Religiosität. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, sagte, insbesondere dieses Ergebnis mache sie nachdenklich. Die Hoffnung wolle sie trotz der für die Kirche ernüchternden Ergebnisse nicht aufgeben, ergänzte sie. Hoffnung sei „der Motor aller Prozesse“.
Laut der seit 1972 sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, einer soziologischen Langzeitstudie, ist noch eine knappe Mehrheit der Deutschen christlich-konfessionell gebunden – evangelisch, katholisch oder orthodox. Nach derzeitigem Trend werde aber bereits im nächsten Jahr der Anteil der christlich-konfessionell Gebundenen unter 50 Prozent sinken. Menschen ohne eine Religionszugehörigkeit werden voraussichtlich Ende der 2020er Jahre die 50-Prozent-Marke überschreiten und damit die Bevölkerungsmehrheit stellen, wie Christopher Jacobi, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD bei der Vorstellung der Studie auf der Tagung der EKD-Synode in Ulm erläuterte.
Wie aus der Studie weiter hervorgeht, schließen nur 27 Prozent der befragten Katholiken einen Kirchenaustritt derzeit aus. Bei den Evangelischen sind es 35 Prozent. Vor rund zehn Jahren bei der vorangegangenen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung waren es noch 74 Prozent. Religiöse Menschen sind laut Studie in der Gesellschaft schon heute deutlich in der Minderheit. 13 Prozent der Befragten verstehen sich als kirchlich-religiös, 25 Prozent als religiös-distanziert, 56 Prozent sind Säkulare, denn auch unter den Kirchenmitgliedern verstehen sich nicht alle als religiös.
Die EKD-Ratsvorsitzende Kurschus sagte mit Blick auf die Studie, dass die Zahl der Kirchenmitglieder zurückgehe, sei eine Tatsache, „die keiner schönreden kann“. Man müsse aber auch sehen, dass es nach wie vor Erwartungen an die Kirche gebe, „die wir nicht kleinreden dürfen“, sagte die westfälische Präses.
Die Menschen erwarteten von der Kirche religiöse Kommunikation, aber auch Einsatz etwa für Flüchtlinge oder gegen den Klimawandel. „Es gilt wirklich, Flagge zu zeigen“, sagte Kurschus, die sich bei politischen Bewertungen in der Vergangenheit eher zurückgehalten, zuletzt aber deutliche Kritik an Inhalt und Stil der Debatte um die Asylpolitik geäußert hatte.
Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung, der Vorsitzender des Beirats der Studie ist, sagte, die Gesellschaft bewege sich „in Richtung eines postkonfessionellen Zeitalters“. Die Kirchen müssten sich stärker an den Lebensfragen der Menschen orientieren und dabei religiöse Horizonte eröffnen.
Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich hält es nach eigenen Worten für notwendig, Mut für Veränderungen zu zeigen, um Menschen zu überzeugen. Es gelte aber auch, deutlich zu machen, dass „eine kleinere evangelische Kirche immer noch eine Organisation mit Millionen von Mitgliedern“ sei. Derzeit gehören den 20 evangelischen Landeskirchen in der Bundesrepublik rund 19,2 Millionen Protestanten an.
In der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung wurden in Kooperation mit der katholischen Kirche erstmals auch repräsentative Ergebnisse für katholische Kirchenmitglieder mit erhoben. Die Befragung fand zwischen Oktober und Dezember 2022 durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa statt. Insgesamt wurden 5.282 Menschen befragt.