Vom Mut, Dinge beim Namen zu nennen

Alt-Bundespräsident Joachim Gauck spricht vor mehr als 400 Menschen in Hann. Münden
Drei Männer in Anzügen schauen in die Kamera.
Bild: Bettina Sangerhausen

Hann. Münden. 400 Stühle standen in der St.-Blasius-Kirche in Hann. Münden bereit, als am Reformationstag Dr. Joachim Gauck, Bundespräsident a.D., als Gast angekündigt war. Die waren schon eine Viertelstunde vor Beginn der Veranstaltung besetzt, die Letzten, die noch eingelassen werden konnten, verfolgten den Vortrag stehend. „Erschütterungen. Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“ lautete das Thema, das so viele Interessierte zusammenbrachte. Es ist zugleich der Titel von Gaucks aktuellem Buch, geschrieben mit seiner Ko-Autorin Helga Hirsch (Siedler-Verlag). Daraus las er lediglich die erste und die letzte Seite, dazwischen: gut eine Stunde Vortrag, in dem er Hintergründe und Zusammenhänge aufzeigte, keine Scheu vor schwierigen Themen hatte und klar Position auch bei umstrittenen Punkten bezog. 

So befürwortet er zum Beispiel Waffenlieferungen an die Ukraine. Dies sei ein schwerwiegender politischer Schritt und ein unangenehmer aus religiöser Sicht, doch gingen die Waffen nicht an ein Land, das ein anderes überfallen will, sondern an Menschen, die sich und ihre Freiheit verteidigen wollen, sagte Gauck. Er erinnerte daran, dass ohne Waffen Hitler nicht gestoppt worden wäre – unsere Welt wäre eine andere, jedenfalls keine freiheitliche Demokratie. 

Diese sei nun in Gefahr, weil wir „zu lange zu sorglos in den Tag gelebt“ und die Bedrohungen von innen und von außen nicht gesehen hätten. Der Friede werde nicht sicherer, wenn man offenkundige Feinde einfach umdefiniere in jemanden, der es vermutlich nicht so ernst meine. Gauck sprach von einem „Wahrnehmungsverlust durch Wunschdenken“ in der Politik.

Mit einem geschichtlichen Exkurs ins totalitäre kommunistische Regime der Sowjetunion und der DDR skizzierte er, wie die heutigen Strukturen dort entstanden und welche Ideologie dahintersteht. Er nannte diese eine „Verewigung der Macht der Wenigen“. 

Vor dem Hintergrund des Angriffskrieges auf die Ukraine geschrieben, kommt der aktuelle Krieg in Israel im Buch nicht vor, doch auch dazu hat Gauck eine eindeutige Meinung: Als Deutsche sollten wir klar an der Seite Israels stehen, was jedoch nicht bedeute, dass man die israelische Regierung nicht kritisieren dürfe. Er motiviert, vermeintlich eindeutige Sachverhalte differenziert zu betrachten, in die Hintergründe zu blicken und zu benennen und zu bekämpfen, „was unsere Demokratie gefährdet.“

„Ich erwarte, dass Sie zur nächsten Wahl gehen. Sonst erscheine ich Ihnen im Traum!“
Joachim Gauck
Viele Menschen sitzen in einer Kirche.
Bild: Bettina Sangerhausen
Mehr als 400 Interessierte waren am Reformationstag in die Kirche St. Blasius in Hann. Münden gekommen.

Zur aktuellen deutschen Parteienlandschaft sagte er, „alle heutigen Parteien sind legitimiert“, durch freie Wahlen, „egal, ob sie uns alle gefallen oder nicht“. Nicht jeder und jede, der oder die politisch als „rechts“ gilt, sei ein Nazi. Das Spektrum reiche von verunsicherten Wertkonservativen und Menschen, die einfach Angst vor Wandel haben, bis hin zu Rassisten und verfassungsrechtlich bedenklichen Nationalsozialisten.

Wie wertvoll echte demokratische Wahlen sind, machte er ganz persönlich deutlich und beschrieb, wie ihn die erste freie Wahl in der DDR bewegt und berührt habe. „Ich erwarte von all meinen Zuhörerinnen und Zuhörern, dass sie zur nächsten Wahl gehen!“, wendete er sich direkt ans Publikum, ganz gleich, „was Sie wählen“. Sonst, so drohte er schmunzelnd, „erscheine ich Ihnen im Traum!“

Musikalisch bereicherte Christian Möller an Orgel und Flügel den Nachmittag. Zu der Veranstaltung hatten gemeinsam mit der Evangelischen Erwachsenenbildung die Evangelisch-lutherische Kirche, die Evangelisch-reformierte Kirche und die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde, die Baptisten, in Hann. Münden eingeladen. „Seit der Reformationstag bei uns in Niedersachsen Feiertag ist, seit 2017, begehen verschiedene Kirchen aus Hann. Münden diesen Tag ökumenisch gemeinsam; nicht als kirchliche Feier, sondern um Kirche und Gesellschaft miteinander über aktuelle Themen ins Gespräch zu bringen. So auch dieses Jahr“, skizzierte es eingangs Andreas Litzke, Diakon für die Region Münden-Mitte im Kirchenkreis Göttingen-Münden. In einer Zeit der Umbrüche und Verunsicherung sei dies besonders wichtig. Der Friede der Welt sei massiv gestört, Freiheit nicht selbstverständlich.

Gemeinsam mit Ernst-Ulrich Göttges, Pastor der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde in Hann. Münden und Präses des Synodalverbandes Plesse, führte Litzke durch die Veranstaltung. Das gesellschaftliche Miteinander in Hann. Münden sei allgemein gut, sagte Göttges. Die Aufgabe der Kirche sehe er verstärkt darin, Ort, Zeit und Perspektive zu bieten, miteinander im Gespräch zu bleiben. Mit „der Fähigkeit zum Austausch, zur Verständigung trotz unterschiedlicher Meinungen und zu gegenseitigem Respekt darin, beginnt für mich das Verständnis unserer freiheitlichen Grundordnung.“

Bettina Sangerhausen, Kirchenkreis Göttingen-Münden