Zwischen allen Stühlen
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Wie sich Altenpflegekräfte im Kampf mit der zweiten Corona-Welle fühlen
Eine große weiße Hand auf rotem Grund, ein Ausrufezeichen, dazu ein Satz, der aufrüttelt: «Regeln beachten bevor jemand stirbt.» Mit diesem Schild wendet sich das Altenpflegeheim der diakonischen Grotjahn-Stiftung im niedersächsischen Schladen angesichts der exponentiell anschwellenden zweiten Welle der Corona-Pandemie mit Nachdruck an Bewohner und Besucher des Hauses. Es geht um Maske, Abstand und Hand-Hygiene. Und um die Angst, dass das Virus wieder dort wüten könnte, wo es im Frühjahr schon Todesopfer gefordert hat.
In der Einrichtung am Harzrand bei Goslar werden 225 Bewohner versorgt und begleitet. In den zurückliegenden Monaten sind in der Stiftung seit Ausbruch der Pandemie neun Menschen an den Folgen einer Sars-CoV-2-Infektion gestorben. Seit einiger Zeit blieb sie vom Coronavirus verschont, alle Vorsichtsmaßnahmen haben gegriffen. Doch die Angst, dass es wieder losgehen könnte, die ist da. «Die Isolation der Bewohner, die Erinnerung an Krankheit und Tod durch Covid 19 - das ist einfach ganz präsent», sagt Stiftungssprecher Benedikt Kappler.
240 Kilometer weiter nördlich mag Svenja Dankers nicht von Angst reden. Respekt sei für sie das richtige Wort, sagt die 33-jährige Altenpflegerin, die im Stader Johannisheim arbeitet. Auch in dieser Einrichtung, die wie Schladen zur Diakonie gehört, sind in den Anfangswochen der Pandemie Menschen mit Covid 19 gestorben, fünf Bewohner.
In beiden Häusern haben die Pflegenden mit Extraschichten, Isolierstationen, peniblen Vorschriften und einem Besuchsstopp das Virus niedergerungen. Jetzt fühlen sie sich besser vorbereitet, die Lernkurve war immens, auch Schutzmaterial ist genügend da. «Wir wissen, wie wir mit Corona-Infektionen umgehen müssen», sagt Dankers.
Das bestätigt Svenja Siegel, gerontopsychiatrische Fachkraft in der Grotjahn-Stiftung. Dazu gehört nach ihren Worten eine «neue Normalität» beispielsweise im Umgang mit Besuchen. Wo früher Angehörige einfach kommen konnten, müssen heute Besuche akribisch geplant werden. Personal muss Besucher mit Schutzausrüstung versorgen und begleiten.
Und auch der ersehnte Schnelltest an der Pflegeheim-Pforte wird Personal binden - und das in einer Situation, in der nach einer Studie der Universität Bremen in der gesamten Altenpflege auch ohne Corona bundesweit alleine rund 100.000 Pflegeassistenten fehlen. «Mehr Personal heißt mehr Zeit für die Bewohner», bringt es Dankers auf den Punkt.
Im Getümmel zwischen Freiheitsrechten, Gesundheitsschutz und Personalnot tut sich so ein Dilemma auf, das unauflösbar erscheint. «Ich sitze als Pflegekraft zwischen allen Stühlen», beschreibt Siegel ihr Gefühl. Und betont im nächsten Satz genau wie Dankers voller Überzeugung: «Besuche sind so wichtig.» Die 42 Jährige erinnert sich an eine Bewohnerin, die vor Glück fast zusammengebrochen ist, als sie nach längerer Zeit ihre Tochter wiedersehen durfte.
Kontakte seien nicht nur, aber besonders in Grenzsituationen des Lebens wichtig, verdeutlicht die Kölner Medizinethikerin Christiane Woopen. «Es gibt einen ethischen Anspruch darauf, nicht getrennt von seinen Angehörigen sterben zu müssen», sagt sie in einer WDR-Dokumentation über das Wolfsburger Hanns-Lilje-Heim, in dem in der ersten Jahreshälfte 47 Bewohner an den Folgen einer
Corona-Infektion gestorben sind. «Wenn es noch einmal zu einem Lockdown kommen sollte», meint Woopen, «dann muss es jedenfalls die Rahmenbedingungen dafür geben, dass die Angehörigen ihren Vater, ihre Mutter, ihre Geschwister oder Freunde im Sterben begleiten können.»
Dass in einer dauerhaft ohnehin engen Personalsituation die Arbeit mit Schutzanzügen und FFP2-Masken noch einmal anstrengender geworden ist und die Pflegekräfte nicht mehr so flexibel eingesetzt werden können - auch das ist Teil der neuen Normalität. Deshalb hätten Corona-Prämie und der Applaus von den Balkonen auch gut getan, blickt Dankers zurück. Doch auf die Frage, ob die Pflegekräfte wie vor einigen Monaten ihrer Wahrnehmung nach noch immer als Helden gesehen würden, antwortet sie: «Nein, definitiv nein.» Und auch Siegel meint, vom Applaus sei «nicht wirklich» etwas übriggeblieben.
Zwar profitieren Pflegekräfte im öffentlichen Dienst finanziell von den jüngsten Tarifabschlüssen. Doch das Umfeld müsse besser gestaltet werden, fordert Medizinethikerin Woopen: «Wir können das Pflegesystem nicht auf der Idee aufbauen, dass sich Menschen ständig total überfordern. Die Arbeitsbedingungen müssen natürlich so sein, dass wir das wertschätzen, was diese Menschen da leisten - und das nicht nur ausschließlich dadurch, dass wir auf den Balkonen stehen und klatschen.»
Dieter Sell (epd)