Startseite Archiv Tagesthema vom 18. August 2020

"Ein Pionier-Projekt auch für andere Landeskirchen"

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Zehntausende User*innen feiern Ellen und Stefanie Radtke, wenn sie einen schlichten Wanderausflug machen, einen Drive-In-Gottesdienst besuchen und erst recht, wenn sie an ihrer Hausbar über Penislängen diskutieren. Dass ihr YouTube-Kanal „Anders Amen“ gerade junge Menschen auf der Suche nach einer kirchlichen Anlaufstelle derart zahlreich anziehen würde, hat die beiden queeren Pastorinnen überrascht, ebenso wie die Nominierung für den prestigeträchtigen „Smart Hero“-Award von Facebook. Die beiden Theologinnen planen nun zunächst die Babypause - und wollen dann mit noch mehr Wumms zurückkehren.

Ellen und Steffi, seit mehr als acht Monaten teilt ihr euer Leben auf dem YouTube-Kanal „Anders Amen“. Zwei lesbische Pastorinnen auf dem Dorf - das zieht: Die Abrufzahlen schießen durch die Decke, dazu kommen unglaublich viele Medienauftritte. Welches Zwischenfazit zieht ihr selbst?

Stefanie Radtke: "Unser anfängliches Ziel waren 1.000 Follower nach einem Jahr. Die hatten wir dann nach einer Woche. Dann wollten wir 5.000 nach sechs Monaten. Nun werden es wohl in neun Monaten 10.000. Wir haben jetzt immer wieder Einladungen oder kooperieren mit anderen, sehr reichweitenstarken Kanälen, etwa dem Y-Kollektiv oder erst kürzlich Tommy Toalingling. Dazu kamen Besuche bei NDR Talkshow, ARD Frühstücksbüffet, Domian im WDR. Das war schon alles ziemlich verrückt."

Ellen Radtke: "Inzwischen ist der schlimmste Hype vorbei. Anfangs mussten wir 14 Tage Urlaub nur für Pressetermine opfern und haben dafür auch einmal zwei Fernsehsendungen zugesagt, die zur gleichen Zeit stattfanden. Inzwischen holen wir uns noch mehr professionelle Beratung vom Evangelischen Kirchenfunk (ekn) und sagen auch mal Anfragen ab. Eines ist aber klar: Ohne Corona hätten wir lange nicht so viel Zeit für den Kanal gehabt - es gab einfach hier vor Ort in Eime deutlich weniger Gottesdienste und Veranstaltungen."

Ihre Videos für "AndersAmen" produzieren die beiden unter anderem bei sich zu Hause.

Die Stiftung „Digitale Chancen“ und Facebook haben euch Ende Juli als eines von fünf Projekten für den prestigeträchtigen „Smart Hero“-Award nominiert. Schon jetzt dürft ihr euch „Smart Heroes“ nennen - was bedeutet euch diese Auszeichnung?

Ellen Radtke: "Für diesen Award haben sich 500 Projekte beworben. Und dann hat uns eine namhaft besetzte Jury mit vier anderen Preisträgern ausgewählt - noch dazu im Bereich „Demokratisch gestalten“. Es ist die einzige Auszeichnung, die es in diesem Bereich gibt. Und wir als kirchliches Projekt passen da rein. Das ist Wahnsinn, egal was jetzt noch kommt."

Stefanie Radtke: "Wir sind schon zufrieden mit der Nominierung, das reicht völlig aus. Schön, dass wir nun auf Insta und Facebook den blauen Haken bekommen, wie Prominente. Und wenn wir ein Preisgeld gewinnen sollten, bekommt unser Cutter Clemens vom Kirchenfunk ein neues iPhone, das hat er sich echt verdient (lacht). Tatsächlich muss man sagen, dass wir das alles ohne das Team vom Kirchenfunk nicht schaffen würden - insofern wäre ein Preis auch immer für uns alle."

In Euren Videos diskutiert ihr über Penisgrößen, geht mit dem Ortsbürgermeister wandern und auch mal in den Drive-In-Gottesdienst. Wer genau guckt sich das alles eigentlich regelmäßig an - und wie reagieren die Leute darauf?

Stefanie Radtke: "Die Rückmeldungen, die wir bekommen, sind überwältigend positiv. Von Leuten, die uns das Herz ausschütten bis zu denen, die sagen: Kirche ist nicht mein Ding, aber euch glaube ich. Wir kommunizieren in dem Kanal viel mit queeren Leuten, die von sich sagen: Ich bin eigentlich sehr kritisch und längst ausgetreten. Darüber freuen wir uns sehr. Junge Menschen, durchschnittlich 25 Jahre alt, sind statistisch gesehen unsere größte Zielgruppe. Vermutlich ist das Publikum sogar noch jünger, denn YouTube erfasst Teenager gar nicht, die nutzen oft den Account der Eltern."

Ellen Radtke: "Unsere Zielgruppe sind aber auch ganz klar die Eltern der jungen Leute. Die wollen alles über queeres Leben wissen, damit sie ihren Kindern keine dummen Fragen mehr stellen müssen. Wir bekommen da ganz oft echt süße Anfragen: Was bedeutet das eigentlich alles? Und wie wird das Leben unserer Kinder sein? Die sind oft sehr froh, dass wir ein Baby erwarten. Denn viele finden es okay, dass ihre Kinder etwa schwul oder lesbisch sind - aber Enkel hätten sie dennoch gern. Da geben wir ihnen Hoffnung mit unserem Kind."

Apropos Baby - wie wird das konkret ablaufen, sobald es kommt?

Ellen Radtke: "Wir haben einige Clips vorproduziert. Und sobald das Baby wirklich kommt, machen wir erst einmal eine Pause. Wir sind Pastorinnen, alles was wir tun, passiert in der Öffentlichkeit. Aber die Hausgeburt werden wir auf jeden Fall nicht filmen - auch wenn unsere Hebamme das cool gefunden hätte. Dagegen hätte ich etwas." (lacht)

Stefanie Radtke: "Unser Superintendent und das Haus kirchlicher Dienste haben uns da sehr unterstützt und alles genehmigt. Und ab Januar schauen wir dann, wie es weitergeht. Wir lassen das alles auf uns zukommen. Gottvertrauen haben wir ja ohnehin."

Stichwort Unterstützung durch die Kirche: Wie beurteilen denn andere Pastorinnen und Pastoren Eure Videos?

Stefanie Radtke: "Viele Kolleginnen und Kollegen sind positiv und unterstützen uns. Aber wahr ist leider auch: Wenn wir jemals angefeindet worden sind in unserem Leben, dann aus kirchlichen Kreisen. Und das leider oft von homophoben Pastorinnen und Pastoren. Wir kennen diese Ablehnung schon von anderen Pfarrstellen, auch in anderen Landeskirchen. Oft heißt es dann sehr perfide und subtil: Jetzt pflegt doch nicht immer eure Eitelkeit, drängt euch nicht so in die Öffentlichkeit. Und zugleich wollen die uns dann auf keinen Fall als Urlaubsvertretung auf ihrer Kanzel. Wenn Leute wie Herr Latzel in Bremen sich inzwischen ganz offen homophob aus der Deckung wagen - was schlummert da wohl noch alles unter der Oberfläche?"

Den Hatern zum Trotz: „Anders Amen“ findet viel positive Resonanz, generiert viele Klicks. Habt ihr vor, das Format auch inhaltlich weiter wachsen zu lassen?

Ellen Radtke: "Wir würden das gern deutlich ausbauen. Die Andachten und Impulse, die wir während des Shutdowns angeboten hatten, mussten wir wieder aufgeben. Denn es gab so viele Mails mit seelsorgerlichen Anfragen, dass wir gesagt haben: Das können wir im Moment unmöglich leisten. Im nächsten Jahr wollen wir deshalb überlegen: Wie verstetigen wir das? Es ist ein cooles Projekt, wir haben damit unheimlich viel erreicht, sind überhaupt nicht nur in der „Kirchen-Bubble“ unterwegs. Aber wie geht es weiter - mit unserem Kind, das in diesem Herbst geboren wird, mit unseren Hauptjobs als Pastorinnen? Unser Zulauf an Nutzern, die sich über geistliche Impulse freuen, ist gigantisch. Das könnte man jederzeit ausbauen und regelmäßig etwas anbieten."

Stefanie Radtke: "Da ist so viel mehr möglich - aber es fehlt uns einfach die Zeit. Ich will schließlich weiter eine gute Dorfpastorin sein. Zwischen diesem Anspruch und dem Kanal zerreibe ich mich gerade. Deshalb muss ich im nächsten Jahr eine Entscheidung treffen, wie es weitergeht. Wir arbeiten ja beide zu 100 Prozent, YouTube machen wir ehrenamtlich. Man könnte aus unserer Sicht eine Personalgemeinde daraus machen, so wie die Landeskirche sie einrichten möchte. Eine ortsungebunde geistliche Gemeinschaft im Internet. Das hat derart Potenzial - es könnte eine neue Form werden, die es auszuprobieren lohnt. Ein Pionier-Projekt auch für andere Landeskirchen. Wir könnten Leute bundesweit begeistern und gemeinsam viele Mitglieder haben, die wir dann auch vor Ort begleiten würden."

Ellen Radtke: "Ich bin realistisch: Die Anbindung an die Ortsgemeinde hier in Eime ist schon wichtig für uns. Wenn wir hier bleiben sollten und mehr Luft für „Anders Amen“ hätten, wäre das ein guter Weg hin zu einer solchen Online-Gemeinde."

 

Zur Abstimmung über den Smart Hero Award geht es über diesen Link.

Alexander Nortrup / Christine Warnecke