Soziale Berufe trotzen der Corona-Krise
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Zwischen Abstand-Halten und Fürsorge
Von Ricklingen nach Linden, weiter nach Badenstedt oder Limmer – Vanessa Herzog fährt fast jeden Tag quer durch die hannoverschen Stadtteile. Ihr Arbeitsplatz ist dort, wo ihre Kunden sind. Innerhalb weniger Stunden steuert die 30-jährige Pflegerin zwölf Haushalte an, wäscht Bettlägerige, versorgt Wunden, zieht alte und kranke Menschen an und ist ihnen bei all dem natürlich auch körperlich nahe. Homeoffice ist für sie undenkbar. Doch die Nähe, die sein muss, ist derzeit für sie und ihre Kolleg*innen bei den Johannitern eine Bedrohung. Das Virus gefährdet alle Menschen – gerade aber die Kunden von Vanessa Herzog. Das darf sie dennoch nicht daran hindern, den Menschen zu helfen.
Deshalb desinfizieren die Pflegekräfte ihre Hände nun besonders häufig. Der morgendliche Arbeitsbeginn wurde gestaffelt, damit nie mehr als drei Mitarbeiter*innen im Büro sind, um Medikamente und Schlüssel abzuholen. Und auch im Umgang mit den Kund*innen gilt Vorsicht: während der Betreuung sollen keine Angehörigen anwesend sein. „Und ich bitte jetzt immer darum, während der Körperpflege nicht zu reden“, sagt Vanessa Herzog. „Bei vielen klappt das gut, aber nicht immer wird es akzeptiert. Das fühlt sich dann nicht gut an und ist frustrierend.“
Für den Ernstfall liegen bei den Johannitern wie vermutlich in allen Unternehmen Pandemie-Pläne in der Schublade; die Strukturen für Notfälle sind angelegt. „Aber wie es wirklich wird, weiß niemand“, resümiert Vanessa Herzog. „Ich selbst habe keine Angst vor dem Virus – nur vor einer möglichen Panik. Und vor dem Unverständnis vieler Leute. Es macht mich wütend, wenn sich Menschen nicht an die Kontaktbeschränkungen halten - sie bringen uns, die mit den Risikogruppen in direktem Kontakt stehen müssen, in Gefahr.“
Vanessa Herzog und ihre Kolleg*innen werden weiterhin ihre Touren fahren. Andere Angebote müssen jedoch ausfallen oder umgestellt werden. Der Gemeindesaal der Christus-Kirchengemeinde in Osnabrück etwa bleibt nun mittwochabends leer. Ebenso wie der Veranstaltungsraum der AWO am Kasinopark dienstags und das Freundeskreis-Zentrum Dissen montags. Statt Austausch und Anteilnahme unter Suchtkranken und ihren Angehörigen herrscht hier nun Ruhe. „Selbsthilfe- und Therapiegruppen können sich wegen des Corona-Virus nicht mehr treffen“, sagt Ulrike Sensse von der diakonischen Suchtberatungsstelle Osnabrück. „Für viele Betroffene ist das schwer auszuhalten. Vielfach brechen nun Strukturen weg, die die Betroffenen dringend benötigen und sie sich oft mühsam aufgebaut haben – von sozialen Treffpunkten, über Sportgruppen, bis zu ganzen Arbeitsplätzen.“
Die Diakonie hat jede Beratung auf Telefon und Mail umgestellt. Die Klienten seien dankbar, dass das funktioniert. Sprechstunden wurden ausgeweitet, Telefonlisten von denjenigen erstellt, die sonst zu offenen Treffs gegangen wären – sie werden nun täglich angerufen. „Wir wollen ja ein fester Anker sein, Sicherheit und Verlässlichkeit geben. Das müssen wir aufrechterhalten“, so Sensse.
Sie selbst erhält „quasi halbstündlich“ neue Wasserstandsmeldungen. Am Freitag etwa diese: Die Entgiftungskliniken in der Umgebung beenden die Rehas vorzeitig und nehmen nur noch Notfälle auf. „Das ist ein Schlag, mit dem wir jetzt irgendwie umgehen müssen. Ich kann die Kliniken nur inständig bitten, den Patienten zu sagen, dass sie zu uns kommen können – sie dürfen nicht allein gelassen werden.“
Doch unverhofft ergibt sich auch etwas Positives: Spielsüchtigen gehe es dieser Tage deutlich besser, sagt Sensse. „Sie berichten mir: ,Wenn wir durch die Straßen gehen und die geschlossenen Kasinos sehen – das ist das Paradies!' Immerhin für sie ist es dieser Tage ein Stückchen leichter.“
Am schwierigsten zu erreichen und versorgen sind aber wohl diejenigen ohne feste Adresse, wohnungs- und obdachlose Menschen. Für sie gibt es normalerweise eine Reihe von möglichen Anlaufstellen, wo sie einen Raum zum Aufwärmen, ein Frühstück und ein offenes Ohr für Sorgen finden. Doch im Kontaktladen „Mecki“ am hannoverschen Raschplatz hinter dem Hauptbahnhof, wo normalerweise etwa 150 Besucher täglich ein und ausgehen, gibt es keinen Durchgang mehr. Im Eingang hängt nun eine Plexiglasscheibe, darunter steht ein Tisch, sagt Pascal Allewelt. Er ist Sozialarbeiter und Koordinator mehrere solcher Treffpunkte. „Wir geben weiter Tee, Kaffee und Butterbrote über diese improvisierte Theke aus - aber es ist eine komische Situation. Viele der Leute kennen wir seit Jahren, sie liegen uns am Herzen – und nun sehen wir uns nur durch das Plexiglas.“ Andere Treffs, das „Dach überm Kopf“ (DüK) und der „Kompass“, sind sogar ganz geschlossen: „Wir konzentrieren unsere Kräfte hier“, sagt Allewelt.
Ein Schutz- und Ruheraum kann das „Mecki“ daher derzeit kaum sein. „Wir sind natürlich weiterhin da“, so der Sozialarbeiter, „aber wer ein Obdach hat, eine Wohnung oder ein Zimmer, den schicken wir nach Hause – sie müssen nicht hier draußen zwischen den anderen stehen.“ Es sei vielen ohnehin schwierig zu vermitteln, warum die Leute Abstand zueinander halten sollten. „Wir arbeiten jetzt von Tag zu Tag und versuchen, die Situation irgendwie erträglich zu machen.“ Vielleicht könnten zur Zeit ohnehin leerstehende Hotels dazu genutzt werden, Obdachlose aufzunehmen. Die Gespräche mit dem Hotel- und Gaststättenverband DeHoGa laufen.
Christine Warnecke