Der Archivar, dem die Klöster vertrauen
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Wolfgang Brandis betreut, sichtet und erforscht die Archive von elf niedersächsischen Klöstern
Schnell huscht Wolfgang Brandis Zeigefinger entlang der fast 500 Jahre alten Zeilen. „Zuerst hat Meister Helmeke Hornbostel zugesagt, unser neues Schlafhaus mit Kornboden, Amtsstube und Kapitelsaal zu bauen. Dies ist uns von der Herrschaft nach Ostern niedergerissen worden“, liest und übersetzt der Archivar des Klosters Wienhausen. Brandis‘ Finger gleitet über seinen Computerbildschirm – darauf zu sehen ist die Seite eines Rechnungsbuches aus dem Jahre 1550, die in schnörkeliger Handschrift und niederdeutscher Sprache über einen Bauauftrag in dem Kloster bei Celle berichtet.
Im Jahr 1531 ließ Ernst der Bekenner, Herzog von Lüneburg-Braunschweig, den Ostflügel und weitere Teile des Klosters Wienhausen niederreißen. Es war der Versuch, die Reformation mit Gewalt auch in dieser Einrichtung voll widerspenstiger Nonnen durchzusetzen. Nach seinem Tod 1546 jedoch erteilte Äbtissin Katharina Remstede bald den Auftrag, den Ostflügel wieder aufzubauen, was 1550 mit Hilfe des Baumeisters Helmeke Hornbostel auch geschah. So heißt es im Rechnungsbuch weiter: „Pro Tag wollte er sechs Gulden haben wie es ihm gebührt, wenn er ein neues Haus baut. Außerdem Verpflegung und ein Paar englische Hosen. Er bekam 33 Gulden pro Woche, hat uns drei Gulden nachgelassen.“
Es sind Geschichten wie diese, die Wolfgang Brandis voller Begeisterung erzählt. Dann sucht er schon das nächste interessante Dokument an seinem Rechner. Dort sind die Seiten vieler Urkunden, Rechnungsbücher oder Briefe aus der rund 800 Jahre währenden Geschichte des Klosters gespeichert. „Die Digitalisierung mittelalterlicher Quellen ist ein wichtiges Projekt und eine unserer Hauptaufgaben“, erläutert Brandis. Im Raum nebenan scannt seine Mitarbeiterin Antje Henze mithilfe einer Spezialkamera historische Schriftstücke aus den Klosterarchiven.
„Wir haben schon hunderte Handschriften digitalisiert“, erklärt Brandis. Für interessierte Forscher ist es besser erstmal in das digitale Dokument zu schauen, als gleich das empfindliche Original im Archiv einzusehen. Gespeichert ist das Material in verschiedenen Dateiformaten und dreifacher Ausführung auf speziellen NAS-Laufwerken. Von den vier Terrabyte Speicherplatz im Kloster sind bereits 85 Prozent gefüllt.
Zudem existiert seit zwei Jahren eine interne digitale Datenbank bei der Klosterkammer. Doch die Klosterkammer ist sich noch unsicher, ob sie diese Datenbank auch für die Nutzung im Internet freigeben will, sagt Brandis. Zum einen geht es um rechtliche Fragen, zum anderen müsse man interessierten Langfingern nicht auf die Nase binden, in welchem Kloster, welches wertvolle Sammlerstück lagert.
Einen Computer hat Brandis schon zu Beginn seiner Tätigkeit für die Archivarbeit genutzt, auch als dies noch „neumodischer Kram“ war. Seit 1991 arbeitet der gelernte Geschichts- und Biologielehrer nach einer Archiv-Fortbildung als wissenschaftlicher Archivar im Kloster Wienhausen. Seit 1993 ist er auch für die fünf weiteren Lüneburger Klöster zuständig. 1998 kamen noch die Calenberger Klöster hinzu. Und einen Tag pro Woche arbeitet er am Sitz der Klosterkammer in Hannover. „Ich fahre viel mit dem Auto umher“, sagt er denn auch einen Satz, den man von einem Archivar erstmal nicht erwarten würde.
Die Archive der Klöster sind alle öffentlich und so gibt es viele Forschungsanfragen, denen Brandis auch in den Klöstern vor Ort nachkommt. Von regionalen Heimat- und Familienforschern bis hin zu Historikern aus aller Welt erreichen Brandis Bitten, mal nach bestimmten Schriftstücken oder Stichworten in Klosterarchiven zu suchen. „Gerade amerikanische Historiker sind richtig verrückt nach dem Mittelalter.“
Besonders viel ist er zu den Lüneburger Klöstern unterwegs. Die Gemeinschaften hier in der dünnbesiedelten Heide wurden im Laufe der Geschichte nicht so sehr von Wegnahmen und Zerstörungen heimgesucht wie die südlicher gelegenen Calenberger Klöster, erläutert Brandis. Deshalb hätten die Lüneburger Klöster heute mehr Kostbarkeiten zu bieten. Und wenn doch mal rabiater Herzog wie Ernst der Bekenner kam, versteckten die Äbtissinnen die wertvollen Gegenstände gekonnt. Gut drei Viertel der „Klosterschätze“, die bis Mitte August in der großen Klosterkammerausstellung im Landesmuseum Hannover zu sehen waren, stammten denn auch aus den „Heideklöstern“.
Dazu gehörten auch die Gründungsurkunde des Klosters Isenhagen von 1243 und eine nahezu lebensgroße Statue der Herzogin Agnes von Landsberg, die die Klöster Isenhagen und Wienhausen stiftete. Wer die Ausstellung mit dem Titel „Schatzhüterin“ besuchte, stieß im zugehörigen Katalog auf zahlreiche Texte von Wolfgang Brandis. Er war Mitglied der Expertenrunde zur historischen Erschließung und des wissenschaftlichen Beirats zur Ausstellung.
Doch das, was in der Ausstellung gezeigt wurde, waren tatsächlich die Perlen aus den Klöstern. Der normale Bestand in den Archiven umfasst vor allem die schriftliche Darstellung von Wirtschafts- und Verwaltungsakten. „Verwaltungsschriftgut ist auf den ersten Blick oft öde“, sagt Brandis. „Aber die Wirtschaftsgeschichte der Klöster ist auch ein kaum erforschtes Gebiet.“ Am Ende eines mittelalterlichen Handels – etwa der Übertragung einer Wiese – stand eine Urkunde, erläutert der Archivar. Das Aktenzeitalter setzte erst im 16. Jahrhundert ein.
Die Urkunden wurden in Truhen in einem verschlossenen Raum aufbewahrt. Jede Urkunde hier ist ein Unikat. 600 davon aus der Zeit zwischen 1215 und 1600 lagern im Archiv des Klosters. Umso wichtiger ist auch die Restaurierung beschädigter Archivalien. „Früher lag vieles offen und ging langsam kaputt“, erläutert Brandis. Die Klosterkammer restauriert und konserviert die Stücke fachmännisch. Der Archivar ist froh über die kompetente Hilfe, mit der er in engem Austausch steht.
Auch die Gemeinschaft im Kloster vom Gärtner über die Sekretärin bis hin zu den derzeit zwölf Konventualinnen hebt Brandis im Gespräch oft hervor. „Wir sind ein sehr gutes kleines Team. Es ist toll hier zu arbeiten, ich fühle mich sehr zugehörig.“ Nicht nur die Gemeinschaft sondern auch die geschichtsträchtige Atmosphäre macht dies zu einem besonderen Arbeitsplatz. Brandis‘ Büro liegt direkt am Ostflügel. Dieser steht übrigens auch weiterhin stabil dank Helmeke Hornbostel, 33 Gulden und einem Paar englischer Hosen.
Stefan Korinth