Liebt Gott alle Menschen gleich doll?
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Künstlerinnen und Künstler mit Handicap arbeiten im Atelier Wilderers in Hildesheim. Ein Werkstattbesuch.
„Liebt Gott wirklich alle Menschen? Liebt Gott wirklich alle Menschen gleich doll? Auch die, die eine geistige Behinderung haben?“ Diese Fragen hat Ina-Maria Meyer neben ihr Bild eines knallgrünen Flugzeugs geschrieben. Die 38 Jahre alte Künstlerin denkt oft an Gott, vor allem dann, wenn sie Kummer hat.
Und in den vergangenen Monaten hatte sie Kummer: „Zwillingsschwester-mutterliebe – Zwillingsschwester-eifersucht“ heißt ein Text, den sie zu ihrem Bild einer schwangeren Frau geschrieben hat. Sie fühlte sich zurückgesetzt, weil die Schwester sich viel um ihr neugeborenes Kind kümmerte, und überlegte auch in dieser Situation, was wohl Gott dazu sagt.
Und sie näht Trosttiere: einen Hund, eine Katze, ein Einhorn. Kunstvoll gestaltet sind diese Tiere, frei Hand gezeichnet auf ein Blatt Papier, dann übertragen auf eine alte Decke, ausgeschnitten, mit der Hand zusammengenäht, mit Applikationen verziert und ausgestopft. Ina-Maria Meyer helfen die Tiere, wenn sie traurig ist, und sie wünscht sich, dass ihre Tiere auch anderen Menschen mit Kummer helfen.
Ina-Maria Meyer lebt in Hildesheim und arbeitet im Kunstatelier Wilderers. Wie alle anderen Künstlerinnen und Künstler hier hat sie ein Handicap, meistert aber das Leben in einer eigenen Wohnung und ist froh und stolz, zu den Wilderers zu gehören. Ihr Künstlerkollege Patrick Premke drückt es so aus: „Die Wilderers sind das Beste, was einem passieren kann.“
Im August 2017 wurde das Atelier im früheren Mehr-Generationen-Haus in Hildesheim eingeweiht; auf 270 Quadratmetern finden sich hier ein großes, helles Atelier und ein Bewegungsraum, ein Bilderarchiv, eine Küche und ein Büro. Auch ein Garten mit einer selbstgebauten Gartenbude gehört dazu, genutzt wird außerdem ein Töpferraum mit einem großen Brennofen. Almut Heimann, Kunstpädagogin und Öffentlichkeitsarbeiterin, leitet das Atelier und hat auch das Konzept für diese Einrichtung der diakonischen proWerkstätten Himmelsthür entwickelt.
„Wir haben in Hildesheim mehrere Jahre lang nach geeigneten Atelierräumen gesucht, um Menschen mit Handicap die Möglichkeit zu geben, als Künstler zu leben und zu arbeiten“, erzählt Heimann. Als das frühere Mehr-Generationen-Haus an der Steingrube von der Stadt Hildesheim in das „Gemeinschaftshaus 19A“ umgewandelt wurde, bot sich endlich eine Möglichkeit: Zwölf Stellen für Künstlerinnen und Künstler mit Handicap wurden geschaffen, 75 Bewerbungen gingen daraufhin ein. In verschiedenen Workshops wurde eine Auswahl unter den Bewerberinnen und Bewerbern getroffen; entscheidend dabei war die künstlerische Qualität ihrer Arbeiten. Aktuell sind 16 Menschen mit Handicap an jedem Werktag von 8 bis 16 Uhr im Atelier tätig; sie teilen sich die Stellen in der Einrichtung.
Dass Ina-Maria Meyer und Patrick Premke für die Künstlergruppe ausgewählt wurden, verwundert nicht: Beide sind sehr vielseitige Künstler, in deren Mappen sich ausdrucksstarke Bilder finden. Ina-Maria Meyer beeindruckt mit klaren, kräftigen Farben und großem Zeichentalent; Tiere und Menschen sind ihr Motiv. „Die Arbeit hier gefällt mir sehr gut“, erzählt sie, „aber manchmal bekomme ich Kopfschmerzen und dann wird es anstrengend.“ In solchen Momenten ist sie froh, dass sie sich bei den Wilderers jederzeit zurückziehen darf; eine ruhige Ecke findet sie immer.
Patrick Premke verspürt dieses Ruhebedürfnis seltener: Voller Begeisterung erzählt er von den Wilderers, führt Gäste durch die Atelierräume, berichtet von Projekten und zeigt die schönsten Arbeiten seiner Kolleginnen und Kollegen. Auch zu seinen eigenen Bildern kann er viel erzählen: Detailgetreu hat er ein großformatiges Bild des Gemeinschaftshauses 19A an der Steingrube gemalt – sogar das kleine Windmessgerät auf dem Dach ist darauf zu sehen. Der 26-Jährige, der in einer kleinen Wohngemeinschaft der Diakonie Himmelsthür lebt, sieht sich aber nicht nur als Künstler, sondern auch als Öffentlichkeitsarbeiter und Hausmeister im Gemeinschaftshaus 19A: „Ich helfe gerne anderen“, sagt er und packt an, wo etwas zu erledigen ist.
„Seit ich bei den Wilderers bin, habe ich viele wichtige Menschen kennengelernt“, berichtet Patrick Premke weiter. Er denkt dabei an Sigmar Gabriel und besonders an Stephan Weil, den er bei einem Besuch der Wilderers-Künstler in Hannover kennenlernte und mit dem gemeinsam er das Titelbild eines Magazins ziert. Stolz ist der junge Künstler auch auf den Verkauf eines großformatigen Niedersachsen-Bildes, an dem er mitgearbeitet hatte und das im vergangenen Jahr für 600 Euro den Besitzer wechselte: Heute hängt es im Niedersächsischen Sozialministerium in Hannover.
„Der Verkauf von Bildern gehört zum Konzept unserer Werkstätten und des Ateliers“, erklärt Almut Heimann; ein kleiner Teil der Kosten wird so wieder eingespielt. Ina-Maria Meyer und Patrick Premke fällt es nicht schwer, sich von ihren Arbeiten zu trennen: Sie sind stolz, wenn ihre Bilder für einen guten Preis verkauft werden. Eines der Bilder von Ina-Maria Meyer hängt heute sogar in Italien – ein schöner Erfolg für die zurückhaltende, freundliche Künstlerin. Nicht zum Verkauf steht Patrick Premkes Bild von der Steingrube 19A – es ist so etwas wie das Wahrzeichen des Künstlerateliers geworden.
Andrea Hesse