Hoffnung aus Stein, Liebling aus Pappe
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Neuseeland: Sieben Jahre nach dem Erdbeben baut Christchurch seine alte Kathedrale wieder auf – trotzdem wollen die Bewohner ihre Ersatz-Kirche behalten
Ohne Michaela Lewin gäbe es bei der Stadtrundfahrt nicht viel zu sehen. Die 24-Jährige regelt als Gatekeeper mit Warnweste, Schlüssel und Schloss den Schienenverkehr in Christchurchs City. Die roten Bahnen, mit denen die Touristen durch die Innenstadt fahren, müssen warten, bis die junge Frau das Gittertor geöffnet hat, damit sie die Absperrung passieren können.
Auch sieben Jahre nach dem schweren Erdbeben in Christchurch, bei dem 185 Menschen ihr Leben lassen mussten, gibt es noch viele abgezäunte Areale, die nicht ohne Weiteres betreten werden dürfen. Neben schmucken Neubauten prägen häufig abgestützte Gebäude und riesige Baugruben das Bild der City. Auch die Kathedrale – Christchurchs bekanntestes Gebäude – erinnert unübersehbar an die tragische Naturkatastrophe. Wie ein aufgerissenes Maul klafft ein dunkles Loch dort, wo einst eine verzierte Fassade das neogotische Gotteshaus geschmückt hat.
Doch das soll sich nun ändern. Die Synode der anglikanischen Diözese Christchurch hat Ende 2017 beschlossen, dass die Kathedrale wieder aufgebaut wird. Die Kosten werden auf rund 100 Millionen neuseeländische Dollar (etwa 60 Millionen Euro) geschätzt. Eine Entscheidung, die lange Zeit gedauert hat: „Die Kathedrale ist unser Wahrzeichen“, sagt Caroline Blanchfield. „Doch wir mussten beim Aufbau der gesamten Stadt mehr als nur dieses Kirchengebäude im Blick behalten“, erklärt Christchurchs Tourismusmanagerin.
Ursprünglich wollte die anglikanische Kirche die wohl bekannteste Ruine der Südinsel komplett abreißen und an dieser Stelle eine neue Kathedrale errichten - den Wiederaufbau bezeichnete sie als zu teuer. Dagegen aber protestierten verschiedene Gruppen, unter anderem eine Bürgerinitiative, die vor allem auf die Bedeutung des Gebäudes als Touristenattraktion hingewiesen hatten.
Auch Michaela Lewin freut sich über den positiven Beschluss. „Die City ohne die Kathedrale – das ist für mich undenkbar“, sagt die junge Frau. „Ich hoffe allerdings, dass uns die schöne Papp-Kathedrale erhalten bleibt.“
Eine Entscheidung darüber ist noch nicht gefallen. Doch Umfragen zeigen immer wieder, dass die Bewohner von Christchurch ihre Cardboard-Cathedral, die der japanische Architekt Shigeru Ban entworfen hat, ins Herz geschlossen haben. Das Notfall-Gebäude, das 2013 aus Pappe, Holz und Stahl errichtet worden war, ist für die meisten schon lange keine Übergangslösung mehr. Die Kirchgänger schätzen vor allem die freundliche Atmosphäre, die den großzügigen und lichtdurchfluteten Neubau umgibt.
Das Design der Cardboard-Cathedral, ist schlicht und gleichzeitig einladend. Wellenförmig lenken die Papprollen, die das transparente Polykarbonat-Dach stützen, die Aufmerksamkeit zu Kreuz und Altar. Und obwohl der Raum bis zu 700 Besucher fassen kann, bietet er gleichzeitig ein Gefühl von Intimität.
Eine Querstraße von der Cardboard-Cathedral entfernt, erinnert eine ungewöhnliche Installation an die Toten: Wie in einem kleinen Open-air-Saal sind hier 185 weiße Sitzgelegenheiten hinter- und nebeneinander aufgestellt. Hocker und Sessel, Holzstühle und Kindersitz laden die Besucher ein, Platz zu nehmen, zu gedenken, zu verweilen – und vielleicht einen Blick auf das spitze Dach der Cardboard-Cathedral zu werfen, das sich wie ein hoffnungsvoller Fingerzeig in den Himmel streckt.
Optimismus bestimmt bei aller schmerzhaften Erinnerung die Atmosphäre in Christchurch. Neue Gebäude wie die Art Gallery zeigen sich in gelungener Architektur, bunte Graffiti schmücken baufällige Mauern, große Plakate künden von der geplanten Stadtgestaltung, die die Schäden des Erdbebens endgültig verschwinden lassen soll.
Michaela Lewin erinnert sich oft an den Tag der Katastrophe: „Plötzlich schoss das Wasser vom Avon River in die Höhe, ich hörte immer wieder Glas splittern und es roch überall nach Gas. Das Handynetz war überlastet, weil jeder wissen wollte, wie es seiner Familie ging … Zum Glück war mit meinen Eltern und meinen Freunden alles okay“, erzählt die junge Frau, die zuversichtlich ist: „Es wird nicht mehr lange dauern und Christchurch wird die schönste Stadt in ganz Neuseeland sein – dann vielleicht mit zwei ganz unterschiedlichen, aber prächtigen Kathedralen.“
Katrin Schreiter