"Er sieht dich, er sieht mich"
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Tag drei auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag
Am letzten Tag des Kirchentages in Berlin, habe ich mich mit popkulturellen Phänomenen beschäftigt. Und erstaunlicherweise gab es dazu auf diesem Kirchentag sehr viele Veranstaltungen.
Beim zweiten Nachdenken fiel mit auch auf, warum das vielleicht so ist:
„Du siehst mich!“, das Motto des DEKT17 legt das Visuelle nahe: also auch Filmgespräche, Videospiele und Filmgottesdienste.
Auch das kann Teil des Kirchentags sein – und das Großartige für mich als medienaffinen Theologen: Es passt sehr gut in unsere Kirchenlandschaft.
Nachdem ich am Freitag bereits die Rollenbilder in Videospielen kritisch betrachten durfte in: „Gender Games – Videospiele austesten und diskutieren“ war ich gut eingestimmt auf meinen Samstag.
Zunächst habe ich mir die Kirchentagspräsidentin Christina Aus der Au und die US-Amerikanische Pastorin Nadia Bolz-Weber von der Church for All sinners and saints zu dem Thema „ecclesia semper reformanda – brauchen wir andere Kirchen?“ angehört, moderiert von unserer hannoverschen Fresh expressions of church Pastorin von Kirche², Sandra Bils.
Kern dieser Veranstaltung war die Frage, was Reformation heute bedeuten kann. Wie gehen wir als Kirche auch auf die Menschen zu, die sich in der verfassten Kirche nicht wiederfinden.
Nadia Bolz-Weber betonte, dass der christliche Glaube zulasse, dass Menschen nicht perfekt sind. Ja, er fordere es geradezu. Bolz-Weber brachte als Beispiel, dass Menschen sich oft verstellen, um besser zu wirken oder erfolgreicher zu sein, aber Gott liebt unser authentisches Ich, nicht unser vermeintlich ideales Ich.
Die Macht der Sünde muss ernst genommen werden, aber man solle sich nicht schämen – bereuen dagegen schon. Durch die Macht der Gnade allein, sind wir Gerechtfertigt, zitierte sie Martin Luther.
Auch Christina Aus der Au stimmte zu und ging ein auf die Beziehung zu kirchenfernem Menschen:
„Dort, wo mir Menschen begegnen, die anders denken, dort weht dynamischer Geist. Wir müssen anfangen miteinander, nicht übereinander zu reden. Denn erst wenn ich getragen bin, halte ich es aus, so zu sein, wie ich bin“
Den Rest des Tages war dann mein Schwerpunkt Film und Fernsehen.
Die Frage nach seriellem Erzählen und dessen Auswirkungen auf Wahrnehmung und Gesellschaft anhand von erfolgreichen TV-Serien wurde mit den beiden Regiesseuren Arne Feldhusen (u.A. Der Tatortreiniger), David Schalko (Braunschlag) sowie Sabine Horst (epd-Film) analysiert.
Spannend war hier zu beobachten, ob und wie sich das Verhalten von Fernseh-Konsumenten durch den DVD- bzw. Bluray- und Video on demand-Markt (also online streaming Dienste) verändert hat.
Seit wenigen Jahren ist es so gerade in US-Serien ein deutliches Phänomen, Einzelfolgen mit sogenannten Cliffhangern aufzuhören zu lassen (einem spannenden Ende). Dies soll erreichen, dass weitergeschaut wird. Wenn nun klassisches Fernsehen durch ständige Verfügbarkeit von Serien abgelöst wird, kann dieses Weiterschauen sofort oder zumindest zeitnah geschehen (binge watching).
Und genau hier ist die gesellschaftlich relevante Komponente: Serien anschauen wird eine gemeinschaftlich zelebrierte Erfahrung. Analog zum Kirchentagsmotto „du siehst mich“ fragen viele Menschen heute „hast du schon … gesehen?“
Nach der Theorie wurde es auch etwas konkreter: TV-Serien scheuen sich heute, bestärkt durch die zunehmende Popularität nicht, existentielle, philosophische und auch theologische Fragen zu stellen.
Könnte man Maschinen mit eigenem Selbstbewusstsein und Glauben programmieren (US-Serie Westworld)? Was hätte dies für Konsequenzen für unsere Definition von Menschlichkeit? Was macht ein Individuum, was mach mich aus?
Ein solcher Tag kann natürlich nur mit einem Filmgottesdienst abschließen.
Der Film zur Jugendbuchreihe Die Tribute von Panem (Hunger Games – Gary Ross, 2012) war für den Gottesdienst in der Golgathakirche von den Ev. Hochschul- und Studierendengemeinden Ludwigsburg und Freising zusammen mit Hochschulpfarrerin Ilse Kirsner (Ludwigsburg) und der Filmwissenschaftlerin Claudia Kärcher vorbereitet worden. Der Film handelt von Katniss Everdeen, die in einer dystopischen Zukunft lebt, in der die Welt in 12 Distrikte von reich nach arm eingeteilt ist. Einmal pro Jahr werden sogenannte Hunger Spiele veranstaltet, zu denen aus jedem Distrikt je ein Junge und ein Mädchen ausgelost werden. Diese sollen, wie in Gladiatorenkämpfen bis zu Tode kämpfen - vor den Augen der Welt. Nachdem Katniss, die Identifikationsfigur des Filmes, sich die Frage beantworten konnte, wer sie selber ist, konnte sie Ihren Weg des (zumindest im 1. Teil der Filmreihe) friedvollen Widerstandes gehen.
In dem Gottesdienst wurde mit Filmausschnitten analysiert, wie sehr die Erzählweise biblische Motive, wie den Lobgesang der Maria (Magnificat), die Szene im Garten Gethsemane oder die messianische Hoffnung und Erfüllung in die Erzählhandlung adaptiert. Die Parallelstellen bildeten dann die biblischen Lesungen des Gottesdienstes. Anschließend durfte man den Film selbstverständlich im Ganzen noch einmal genießen.
Der rote Faden meines Tages wurde für mich in dem Abendsegen auf der Sommerwiese im Messezentrum gut zusammengefasst: es ging um das Ich und die authentische Beziehung zu Gott.
„Gott sieht aus dem Himmel über Berlin ein Lichtermeer. Er sieht dich – er sieht mich“
Amen.
Micha Steinbrück