Kämpferin gegen Antisemitismus
Die Darstellung der Archivmeldungen wird kontinuierlich verbessert. Sollten Sie Fehler bemerken, kontaktieren Sie uns gerne über support@systeme-e.de
Die Sozialpädagogin Rebecca Seidler engagiert sich für ein selbstbewusstes Judentum
Ihre Fassungslosigkeit ist Rebecca Seidler noch immer anzumerken. Bei Verhandlungen über das Honorar für einen Lehrauftrag an einer Universität bekam sie tatsächlich zu hören: "Sie können doch froh sein, dass Sie als Juden überhaupt wieder in Deutschland reden dürfen." Die 36-Jährige holt tief Luft: "Den Job habe ich natürlich nicht angenommen." Seidler, lange mittelblonde Haare, um den Hals eine Kette mit dem Davidsstern, ist in Hannover geboren und aufgewachsen. "Ich liebe diese Stadt", sagt die Mutter zweier Kinder. Doch weil sie Jüdin ist, muss sie sich auch mehr als 70 Jahre nach dem Holocaust mit antisemitischen Klischees und Vorurteilen herumschlagen.
Da war etwa jener Nachbar, der beim gemeinsamen Grillen für sich feststellte, Juden seien keine Deutschen und hätten daher auch in Deutschland kein Recht auf Meinungsäußerung. Und da sind die Hassmails an ihre Gemeinde in Hannover und auch an sie persönlich, in denen Juden als "zionistisches Dreckspack" beschimpft und pauschal für alle Taten des Staates Israel verantwortlich gemacht werden.
Was der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus im Bundestag kürzlich in einem Bericht beschrieb, kann Seidler nur bestätigen: Antisemitische Pöbelei und Hetze im Alltag nehmen in Zeiten eines wachsenden Rechtspopulismus und Islamismus immer mehr zu, ohne dass sich eine Statistik darüber führen ließe.
Schon oft hat Seidler erfahren, dass junge Juden an der Schule beleidigt, gemobbt oder sogar körperlich attackiert werden wie zuletzt vor ein paar Wochen in Berlin-Friedenau. "Die Lehrerausbildung muss sich viel intensiver mit Phänomenen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit wie Rassismus, Sexismus und Antisemitismus auseinandersetzen", fordert die promovierte Sozialpädagogin, die in Hannover eine Praxis für psychosoziale Beratung leitet. Viele Lehrer reagierten hilflos, wenn diese Ausgrenzungsphänomene im Alltag auftauchten. "Das ist ein großes Manko. Die Lehrkräfte benötigen ein Wissen über praktische Methoden im Umgang damit."
Die Erinnerung an antisemitische Gewalt hat sich in Seidlers Familie tief eingegraben. Ihre Großmutter verlor während des Holocausts Geschwister und Verwandte. Zu Hause wurde später nicht viel darüber gesprochen. Zu tief saß das Trauma. "Meine Oma hat den Holocaust überlebt, aber emotional hat sie ihn nicht überlebt." Immer wieder sagte die Großmutter Sätze wie "Vertraue nicht in die Gesellschaft!" Seidler stockt, wenn sie davon erzählt.
Der Kampf gegen den Antisemitismus sei eigentlich eine Aufgabe für die Mehrheitsgesellschaft, findet sie. "Wir Juden sind dafür zu wenige." Doch einmal hat sie selbst protestiert. Eine Hochschule in Hildesheim bot ihr vor zwei Jahren einen Lehrauftrag als Ko-Referentin für ein Seminar über Jugendliche in Israel und Palästina an. Seidler rieb sich die Augen, als sie in den Seminartexten unverhohlen judenfeindliche Inhalte entdeckte - unter anderem wurde Israel Völkermord und Organhandel unterstellt. Das Seminar wurde schließlich als Folge ihres Einspruchs abgesetzt, sogar die Präsidentin der Hochschule musste gehen - der Eklat sorgte international für Schlagzeilen.
Halt und Unterstützung findet Seidler in der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, die von ihrer Mutter mitbegründet wurde und zu der zahlreiche Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gehören. Hier ist sie stellvertretende Vorsitzende und zuständig für die Kinder- und Jugendarbeit.
Schon vor Jahren hat sie den bundesweiten Verein "Jung und Jüdisch" mitbegründet, der Freizeiten organisiert oder Gottesdienste gestaltet. Viele Jugendliche und junge Erwachsene gäben sich im Alltag nicht als Juden zu erkennen, erzählt sie. "Wenn sie bei uns in der Gemeinde sind, haben sie ein emotionales Zuhause, wo sie sich nicht rechtfertigen müssen. Das ist ein ganz großer Schatz."
Oft führt Rebecca Seidler auch Schulklassen durch die Synagoge, und manche Besucher sagen dann Sätze wie "Ach, so normal sind Juden?" Der persönliche Kontakt sei der beste Weg, um Vorurteile zu überwinden, weiß sie. "Wir sind ein offenes Haus."
Michael Grau (epd)