Berührungsmut
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Andacht zum Sonntag Palmarum
Sie sah es in seinen Augen, als er an ihr vorüberging. Mit seinen Männern, die sie keines Blickes würdigten. Sie sah den kommenden Schmerz. Die Einsamkeit inmitten der Vielen. Und seine Entschlossenheit.
Sie holte das Öl und ging auch zu Simon. Durch die hereingebrochene Dunkelheit, die alles noch klarer ans Licht brachte. Sie schob den Zweifel zur Seite. Und die Angst vor seinen Männern. Auch die Angst, dass er sie zurückweisen könnte.
Sie trat mutig mitten hinein unter sie. Die Männer hielten den Atem an. Stumm kniete sie sich hinter ihn. Nahm das Öl und salbte seinen Kopf. Sanft, aber bestimmt. Ohne jede Scheu und Angst. Und die Zeit stand still.
Die Männer in der Nähe Jesu meinten, schon so viel begriffen zu haben. Und so meckern und motzen sie. Hast du, Jesus, nicht gesagt: Selig sind die Barmherzigen? Gebt den Armen, was ihr habt? Teilt euren Besitz? Und was macht diese Frau?!
Was für eine Verschwendung, Öl im Wert eines Jahresgehaltes…! Wie viel Gutes hätte man mit diesem Geld machen können!
Alles richtig. Doch Jesus sieht etwas anderes. In ihren salbenden Händen leuchtet sie auf, die Schönheit der Schöpfung. Die liebend sich verschenkt. Und von der er, Jesus, auch immer wieder sprach. Von den Lilien auf dem Feld. Und den Vögeln, prächtiger geschmückt als König Salomo.
Geben, einfach so geben. Als hätte man unbegrenzt. Nicht nach Nützlichkeit fragen. Einfach die Hände öffnen. Berühren. Nähe schenken. Über Mauern springen.
Und so hält die Welt den Atem an. Eine Frau kniet inmitten der Männer und salbt Jesus sanft. Berührungsmutig. Ihn, in dem so viel an Liebe aufleuchtet. Und die kommende Auferstehung kündigt sich an. Der neue Anfang, das neue Leben.
Weite statt Enge. Schönheit statt Nützlichkeit. Verschwendung statt Effektivität. Liebe statt Einsamkeit. Leben statt Tod.
Diese Frau: Sie hat Gutes getan, sagt er. Meinen Leib für das Begräbnis gesalbt. Die Männer, die meinten, schon so viel verstanden zu haben von ihm und seinem Vater: Die Schönheit dieses Aktes begreifen sie nicht. Und dass es sie zu feiern gilt, die verschwenderische Schönheit der Schöpfung. Auch und gerade angesichts des Todes.
Ach, ich höre sie schon, die Bedenkenträgerinnen und Bedenkenträger: Das ist gefährlich, so gefährlich … Wir haben Berührungsängste. Und überhaupt – haben wir nicht andere Sorgen? Unsere Welt gerät aus den Fugen. Da braucht es doch nüchternes, entschlossenes Handeln, die Zeit läuft uns davon. Wir können es uns nicht leisten, dass die Zeit still steht.
Doch ohne Berührungsmut gehen wir vor die Hunde. Zahlen, Effizienz und Nützlichkeit: Alles zu seiner Zeit. Doch es braucht auch die Zeit, sich mutig einzustimmen auf das, was kommt. Und zu spüren, was trägt.
Berührungsmut: Der Handschlag, ein Wimpernschlag länger als üblich. Einander in den Arm nehmen, wo es nicht erwartet wird. Oder ein Wort, das die Mauer des Schweigens durchbricht. Und so weiter und so fort.
So wird sie mutig gefeiert, die Schönheit der Schöpfung, immer wieder neu. Sie sah es in seinen Augen, als er an ihr vorüberging. Und es weckte ihren Berührungsmut. Was sehe ich den Augen derer, an denen ich vorübergehe?
Amen.
Pastor Dr. Matthias Jung, Landessozialpfarrer