Corona-Hilfsprojekt in Hannover ermutigt Obdachlose, den Sprung in ein geregeltes Leben zu wagen
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Hannover. Die Hühner haben es ihr angetan. Sieben von ihnen gackern in einem umzäunten Gehege im Park hinter dem Naturfreundehaus in Hannover, und Heidi O. hat die Aufgabe übernommen, sie jeden Morgen zu füttern. "Tiere geben einem so viel", sagt die 37-Jährige und stützt sich mit den Armen auf zwei Gehhilfen. "Die Natur lässt einen hier wirklich zur Ruhe kommen." Noch vor nicht allzu langer Zeit hat Heidi O. zeitweise auf der Straße gelebt und in Notunterkünften übernachtet, weil sie keinen festen Wohnsitz hatte. Jetzt lebt sie in einem Gästezimmer im Grünen - und ist Teil eines ungewöhnlich erfolgreichen Hilfsprojekts für Wohnungslose mitten in der Corona-Krise.
Denn um Rückzugsmöglichkeiten für 66 Menschen ohne Obdach zu schaffen, hat die Stadt Hannover gemeinsam mit Land und Region bis Mitte Oktober das Naturfreundehaus am Rand des Stadtwaldes Eilenriede angemietet. Weil dort zurzeit noch Tagungen laufen, sind viele Obdachlose aus der Gruppe vorübergehend in einem Hotel in der City untergebracht, sie sollen aber im August nachziehen. Diakonie und Caritas haben die Betreuung der Menschen übernommen.
Eigentlich war das Projekt, das im April in der Jugendherberge am Ihmeufer begann, zum Schutz der Wohnungslosen vor dem Coronavirus gedacht. Doch im Laufe der Zeit entfaltete es ungeahnte Kräfte: 21 Teilnehmer haben inzwischen ein Zimmer oder eine eigene Wohnung gefunden. Und zwölf einen neuen Job. Sie konnten sich einfach nicht mehr vorstellen, sich wieder dem Stress der Straße auszusetzen.
Sabine Bösing verwundert das nicht. "Es tut Menschen gut, wenn man ihnen eine menschenwürdige Unterkunft gibt", betont die stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG), die sich für die Belange der rund 678.000 Wohnungslosen in Deutschland einsetzt. "Wenn sie die Möglichkeit bekommen, zur Ruhe zu kommen, dann finden sie auch den Mut, neue Perspektiven zu entwickeln, um einen Weg aus der Obdachlosigkeit zu finden."
Das aus der Not geborene Corona-Projekt in Hannover scheint einen neuen Ansatz aus den USA zu bestätigen: das "Housing First"-Konzept. Es geht davon aus, dass obdachlose Menschen als erstes eine eigene Wohnung brauchen, bevor sie mit Unterstützung von Sozialarbeitern alle anderen Angelegenheiten regeln. Die Grünen-Ratsfraktion in Hannover frohlockt bereits: "Housing First wirkt!"
Darauf hofft auch Sascha L. (37), der sich mit Heidi O. ein kleines Doppelzimmer im Naturfreundehaus teilt. "Hier hat man sein eigenes Reich, wo man abschalten kann", erzählt er. In ihrer neuen Unterkunft bekommen sie jeden Morgen ein Frühstück und haben eine Dusche auf dem Flur. "Da kann man schon mal das Wort Luxus in den Mund nehmen", freut sich Sascha. "Das ist eine Win-Win-Situation für uns."
Viel Zeit verbringen beide auf dem Gelände der Einrichtung zwischen schattigen Bäumen, Vogelgezwitscher und dem Hühnerstall. Gleichzeitig durchforsten sie Zeitungen und das Internet nach einer dauerhaften Bleibe - was nicht einfach ist, denn wegen ihrer Gehprobleme braucht Heidi eine Wohnung im Erdgeschoss oder mit Aufzug.
Franz Bauer hat es bereits geschafft. Der 58-Jährige ist nach der ersten Phase des Projekts in der Jugendherberge mit einem Kumpel direkt in eine Zwei-Zimmer-Wohnung der Caritas gezogen. "Dass man mal die Tür hinter sich zumachen kann und für sich ist, das braucht jeder Mensch", erzählt er in seiner Mannheimer Mundart. Jetzt sucht er einen Job. Sich wieder draußen durchzuschlagen und in Notunterkünften zu schlafen, kam für Bauer nicht infrage: "Das wäre ein ganz großer Horror gewesen."
Genau das ist der Wermutstropfen des Projekts: Es ist befristet. Wenn sich bis Oktober keine andere Lösung findet, müssen die Teilnehmer in ihr altes Leben zurück. Sabine Bösing von der BAG warnt vor dieser Situation: "Wir brauchen etwas, das den Menschen langfristig Perspektiven gibt und sie nicht wieder in etwas stürzt, was sie schon mal durchgemacht haben." Tatsächlich denken alle Beteiligten in Hannover bereits über eine Fortsetzung der Aktion nach. Für Caritas-Projektleiterin Ramona Pold wäre das ein "Meilenstein" in der sozialen Arbeit: "Wenn die Leute einmal Selbstvertrauen gefunden haben, können wir sie viel besser unterstützen."
epd Landesdienst Niedersachsen-Bremen