Ein Wunder?!

Andacht zum Erntedankfest
Bild: Canva/Getty Images

Der Autor

Richard Gnügge
Richard Gnügge

Richard Gnügge ist Pastor in der Nikolaikirchengemeinde Hiddestorf/Ohlendorf und mitverantwortlich für die Tauf-Aktion #gottesgeschenk.

Es gibt Geschichten, die fallen jedem und jeder ein, wenn sie gefragt werden: Welche Geschichte aus der Bibel kennst Du? Zumindest denen, die als Kind mal eine Zeit lang am Kindergottesdienst teilgenommen haben. Die Geschichte von der Speisung der Fünftausend (Matthäus 14,13–21) könnte einem da einfallen. Alle Evangelisten erzählen sie in der Bibel. Insgesamt sechsmal wird von ihr berichtet:

Sechsmal eine ähnliche Geschichte vom Sattwerden.
Eine Geschichte von und mit Jesus.
Vom Endlich-mal-genug-Haben.
Vom Nicht-Zu-Kurz-Kommen.

Das spricht für die Bedeutung, die die Geschichte gehabt hat, damals, für die ersten Christinnen und Christen. Sie kannten das Problem: Hunger. Mangel. Die Angst, am Ende des Tages hungrig nach Hause gehen zu müssen und für ihre ebenso hungrige Familie nur ein entschuldigendes Kopfschütteln zu haben.

Für sie zählte das Endergebnis, als Verheißung, als Anspruch, als Versprechen: Jesus macht satt. Gott macht satt. Nicht nur seelisch-geistlich – dafür ist wenig Platz, wenn der Magen sich vor Hunger windet. Sondern auch körperlich. Und Gott sorgt dafür, dass genug für alle da ist. Sogar mehr als genug. Gott will nicht, dass Menschen hungern und frieren und einsam sind. Punkt. Oder besser: Ausrufezeichen. Gott will nicht, dass Menschen hungern und frieren und einsam sind! Und dennoch möchten wir wahrscheinlich immer wieder gerne wissen, wie das zugegangen ist. Damals mit den fünf Broten und zwei Fischen und den mehr als 5.000 Menschen.

Ehrlich gesagt: Genau kann ich mir das auch nicht erklären. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese völlig sorglose und vertrauensvolle Art Jesu, alles unter die Leute zu verteilen, was sie dabeihatten, manches Herz und manche Tasche ebenfalls geöffnet hat. Vielleicht könnte man sagen, dass Jesus all diese hungrigen Menschen mit seinem Vorbild, das seinen Worten Taten folgen ließ – denn er hatte ja vorher lange zu ihnen geredet – aktiviert hat und viele plötzlich zu schauen begannen: Was ist denn in meiner Tasche und in meinem Herzen? Was habe ich denn beizusteuern an diesem wundervollen Tag? Und dass sie alle miteinander geschaut haben, was passiert, wenn Menschen ihre kleinen Möglichkeiten und Stärken oder eben Brote und Fische zusammenlegen – ohne Angst, etwas zu verlieren. Um damit die Worte Jesu, die die Herzen und Seelen der Menschen schon zuvor satt gemacht hatten, nun auch ganz erlebbar und real werden zu lassen: Es ist genug für mich und für dich da. Nimm…

Was für ein Segen wäre das auch für unsere Zeit und für unsere Gesellschaft?! Was für ein Wunder! Darum: Wunder zu erklären, dazu habe ich eigentlich gar keine Lust. Ich finde mich heute gar nicht in einer Situation wieder, sie zu deuten und den übertragenen Sinn zu suchen. Sondern ich fühle mich eigentlich in einer Lage, wo man sich wieder mehr danach sehnt, dass sie einfach geschehen. Nicht nur damals vor 2.000 Jahren, sondern heute und hier. Vielleicht sollten wir darum weniger zu erklären versuchen, was ein Wunder ist oder wie es passiert sein könnte. Sondern eher zulassen, dass Gott uns zum Wunder macht – uns dazu bringt, an seinen Wundern mitzuarbeiten.

Und ich erlebe solche Wunder auch schon. Dankbar sehe ich sie geschehen: In unserer Gemeinde: Da opfert jemand seine Freizeit, um andere Menschen zu besuchen, vorbeizuschauen, sie auch einmal zum Einkaufen zu fahren – einfach so. Da investieren Menschen Zeit und Energie und auch Geld in einen Begegnungsraum und nennen es Dorfcafé. Da ist eine Künstlerin, die gleichzeitig unsere Küsterin ist und organisiert ein Kulturprogramm…

Und ich sehe sie in unserem Ort: Da geben Menschen ihre Freizeit hin, um Kindern die Freude und Kunst des Fußballs oder der Musik nahe zu bringen. Da engagieren sich Menschen bei einem Basar, der letzten Endes den Vereinen und Verbänden unseres Dorfes zu Gute kommt. Viele kleine große Wunder.

Und diese Geschichten können auch mir und uns die Angst nehmen davor, dass es nicht reichen könnte. Das wir nicht machen können, was wir doch tun sollten!

Wie die Geschichte von der Speisung der 5.000 können sie uns die Ängste nehmen, weil etwas möglich wird, das wir nicht erwartet haben: Da teilen Menschen miteinander. Da werde ich gebraucht mit meinen Gaben und Begabungen. Da können wir gemeinsam etwas verändern. Und ich bin davon überzeugt, wenn wir auch als Christinnen und Christen unsere Gaben und unsere Gemeinschaft unter den Segen Jesu stellen, dann werden sie zum Segen, auch wenn sie auf den ersten Blick gering scheinen.

Als Jesus die Brote und den Fisch segnet, verändert sich ja etwas, da entsteht Hoffnung, dass es doch reichen könnte. Das ist echte Ermutigung, denke ich. Nichts muss bleiben, wie es ist. Wir können zusammenstehen als Christinnen und Christen. Und wir können uns verbünden mit Menschen anderen Glaubens und auch ohne Glauben.

Solche Hoffnung erscheint klein, wenn wir auf diese Welt und auch in unser Land schauen. Bei den politischen Umbrüchen, die so vielen und auch mir gewaltige Bauchschmerzen verursachen. Es gibt kein Wir-Gefühl mehr, titelte vor einigen Tagen tagesschau.de. Gerade noch 14 Prozent der Befragten glauben an einen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und gerade einmal 25 Prozent glauben, dass sich Menschen überhaupt gegenseitig unterstützen.

Das zeigt: Menschen haben Angst in unserem Land. Zu kurz zu kommen, eben nicht genug zu haben. Vermeintlich oder auch – und auch das ist eine bittere Wahrheit – ganz real. Und sie bekommen Wut. Undefinierbar und dennoch in meinen Augen oft genug auch unbegründet…, vielleicht auch aus einem Gefühl der Ohnmacht? Die Wochenzeitung „Die Zeit“ machte das gerade erst zu ihrem Titelthema: Wut…

Denn auch diese Fragen kommen dann hoch: Was können wir schon tun? Wie soll Frieden werden? Wie soll es gerecht zugehen in unserem Land? Was bedeutet mir, uns Solidarität? Was hält unsere Gesellschaft zusammen?

Die Geschichte von der Speisung der 5.000 macht mir und vielleicht auch uns dabei Mut. Wir können etwas tun – und wenn es auch nur erst einmal wenig ist – wie ein paar Brote und wenige Fische, die wir haben. Wir legen sie in die Hände Jesu – und siehe da, es entsteht Gemeinschaft und am Ende ist es mehr als wir gedacht hätten.

Am Erntedanktag schauen wir auf die Fülle, die wir geschenkt bekommen. Wir werden satt. An Leib – und dann hoffentlich auch an der Seele? Ich hoffe es! Am Erntedanktag hören wir vielleicht auch die Geschichte von diesem Wunder. Ein Wunder vor 2.000 Jahren: Für alle reicht es und alle sind satt und jeder wird gesehen und jede kann sich einbringen. Und vielleicht nehme ich, nimmst du, nehmen wir das einmal mit in die kommende Woche und schauen ganz konkret: Wo kann ich aus dem, was ich von Gott geschenkt bekommen habe, abgeben, teilen, Zeit und Energie schenken.

Und dann, siehe, ein Wunder wird geschehen!

Amen

Der Autor

Richard Gnügge
Richard Gnügge

Richard Gnügge ist Pastor in der Nikolaikirchengemeinde Hiddestorf/Ohlendorf und mitverantwortlich für die Tauf-Aktion #gottesgeschenk.

Biblischer Text,
Matthäus 14,13–21
Als das Jesus hörte, entwich er von dort in einem Boot in eine einsame Gegend allein. Und als das Volk das hörte, folgte es ihm zu Fuß aus den Städten. Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn und er heilte ihre Kranken. Am Abend aber traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Die Stätte ist einsam, und die Nacht bricht herein; lass das Volk gehen, damit sie in die Dörfer gehen und sich zu essen kaufen. Aber Jesus sprach zu ihnen: Es ist nicht nötig, dass sie fortgehen; gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen zu ihm: Wir haben hier nichts als fünf Brote und zwei Fische. Und er sprach: Bringt sie mir her! Und er ließ das Volk sich lagern auf das Gras und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel, dankte und brach’s und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle und wurden satt und sammelten auf, was an Brocken übrig blieb, zwölf Körbe voll. Die aber gegessen hatten, waren etwa fünftausend Männer, ohne Frauen und Kinder.
Richard Gnügge