Es ist Anfang Mai; jetzt sprießen sie wieder am Straßenrand, an Hecken, Mauern und Zäunen. Unscheinbar, klein, hellblau wie der Frühlingshimmel – Vergiss-mein-nicht. Und meine Gedanken gehen zurück in einen Sommer meiner Jugend. Unweit der Haustür standen sie, zauberten einen blauen Teppich. „Belles fleurs!“, kommentierte der Besuch mit ausgestrecktem Arm. „Ich liebe sie“, antworte ich. „Am schönsten ist ihr Name: >Don’t forget me<“.
Bald 30 Jahre ist es her, dass mein Schulfreund mit „seinem Franzosen“ in unserem Garten stand. Viel Zeit ist seitdem vergangen. Wie viele Pläne und Ideen wir damals hatten. Wir haben uns davon erzählt, immer wenn wir uns trafen: Bei Besuchen hier oder in Frankreich. Viele Jahre hielt der Kontakt, war mal intensiv, mal lockerer. Jedes Mal zum Abschied – so das Ritual – bekam ich eine Blume: „Pour toi: My >Don’t-forget-me<“.
Vergessen habe ich die Zeit und die intensiven Momente dieser Freundschaft nicht. Frank, mein alter Schulfreund, lebt lange nicht mehr. Zu Etienne ist der Kontakt mit der Zeit verloren gegangen.
Ich stehe vor den Vergiss-mein-nicht und meine Gedanken gehen zurück. Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Dieser Satz aus dem 90. Psalm schwappt hinein in mein Erinnern. Ja, Erinnerungen bleiben, aber irgendwann wird die lebendige Erinnerung an uns mit denen, die uns kannten, aus dieser Welt verschwunden sein. Nicht so bei Gott, davon bin ich überzeugt. Bei ihm hat alles – unsere Beziehungen, unsere Wege, unsere Tränen, unsere Wut, jedes Lächeln – einen Platz in Ewigkeit.
Für mich fühlt sich dieser Satz nicht bedrohlich an, sondern wie eine Einladung zum bewussten Leben. Eine Einladung, nicht so viel zu verschieben, Prioritäten neu zu überdenken, Zeit zu verschenken, mich einzusetzen, wachsam zu bleiben, bewusst und achtsam im Hier und Jetzt zu sein…
Nicht immer gelingt das!
„Auf dass wir klug werden“, bedenken, dass das Leben nicht ewig währt. Diesen Gedanken zu verinnerlichen – in seine Seele reinzulassen, ist dann nichts Niederdrückendes, sondern eher ein Stück wahre Lebenskunst. Eine Haltung, die ich üben kann und zugleich bleibt es unverfügbar, ob sie in meiner Seele Wurzeln treibt. Nicht alles kann ich machen – aber bitten um Gottes Geist: Tröster und Beistand wird er genannt, der in der Wahrheit leitet, Verstehen bringt, Augen auftut.
Offene Augen zu haben für das, was lebenshindernd ist, ist eine Aufgabe – ein offenes Herz zu haben für wahres Leben, ein Geschenk.
Amen.
Johannes 16,5–15