Den Finger in die Wunde legen

Andacht zum Sonntag Quasimodogeniti
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Die Autorin

Eine jüngere Frau lächelt in die Kamera.
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Dorothee Beckermann

Dorothee Beckermann ist Diakonin in der Region Linden-Limmer.

Früher tat mir Thomas immer leid. Wenn im Kindergottesdienst erzählt wurde, wie er nicht dabei war, als alle anderen das Wunder erlebten. Wie er nicht dazugehörte, als der Auferstandene seinen Freunden erschien. Wie sein Glaube einfach nicht groß genug war. Der arme ungläubige Thomas.

Wenn ich heute seine Geschichte höre, gehen mir ganz andere Gedanken durch den Kopf. Thomas steht fest im Leben und nimmt sich selbst ernst. Er lässt sich nicht abspeisen mit Erfahrungen aus zweiter Hand und Offenbarungen, die anderen zuteilgeworden sind. Das Leid, die Verachtung, die Wunden der letzten Tage sind ihm noch zu deutlich vor Augen. Das lässt sich nicht schönreden, wegwischen, einfach so umdeuten. Thomas will berühren und berührt werden. Er will nicht theoretisch über Auferstehung philosophieren. Er will sie selbst erfahren.

Ich stelle mir vor, wie ich mich neben Thomas stelle. Täglich erlebe ich, wie zerbrechlich und bedroht das Leben ist. Was Menschen einander antun, hinterlässt immer Spuren. Was ich abends in den Nachrichten sehe, ist nicht die schöne neue Welt, in der es nur strahlende Sieger gibt, die den Tod schon überwunden haben. Es ist eine Welt mit Wunden und Narben, mit unschuldigen Opfern und unheilvollen Verstrickungen. Oft mehr Karfreitag als Sonntag nach Ostern. Denen, die versprechen, dass einfach alles gut wird, vertraue ich nicht. Ich will mit Thomas meinen Finger in die Wunde legen. Will nicht wegschauen, wenn Unrecht geschieht. Will mich nicht rausreden, wo es auf mein Handeln ankommt. Will nicht mitspielen, wenn die Regeln dem Leben nicht dienen.

Und ich will nicht nur zuschauen, wie andere ihren Glauben leben. Nicht nur Geschichten hören, die andere erzählen. Ich will selbst dem Auferstandenen begegnen. Ich will selbst spüren, wie aus den erlittenen Verletzungen die Kraft für den Neubeginn wachsen kann. Will selbst sehen, wie die Hoffnung immer wieder neu aufkeimt. Will erleben, wie Gottes Nähe alles verwandelt: mich selbst, meinen Blick auf die Welt und all das, was scheinbar fertig, abgestorben, aufgegeben und zerstört ist. Diese Kraft will ich fühlen in meinen Gedanken und in meinen Händen.

Mit dem Auferstandenen werde ich mich an den Tisch setzen und mich stärken mit Brot und Wein und Gottes Gegenwart. Gemeinsam mit Thomas neu Vertrauen schöpfen. Und dann erneuert, lebendig und kraftvoll aufstehen, aufbrechen und rausgehen. Osterspuren in der Welt entdecken und selbst hinterlassen, wo immer ich hingehe.

Predigttext,
Johannes 20,19–29
19 Es war Abend geworden an diesem ersten Wochentag nach dem Sabbat. Die Jünger waren beieinander und hatten die Türen fest verschlossen. Denn sie hatten Angst vor den jüdischen Behörden. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: „Friede sei mit euch!“ 20 Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Die Jünger freuten sich sehr, als sie den Herrn sahen. 21 Jesus sagte noch einmal: „Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich jetzt euch!“ 22 Dann hauchte er sie an und sagte: „Empfangt den Heiligen Geist! 23 Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie wirklich vergeben. Wem ihr sie aber nicht vergebt, dem sind sie nicht vergeben.“ 24 Thomas, der auch Didymus genannt wird, gehörte zum Kreis der Zwölf. Er war nicht bei ihnen gewesen, als Jesus gekommen war. 25 Die anderen Jünger berichteten ihm: „Wir haben den Herrn gesehen!“ Er entgegnete ihnen: „Erst will ich selbst die Wunden von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen. Sonst kann ich das nicht glauben!“ 26 Acht Tage später waren die Jünger wieder beieinander. Diesmal war Thomas bei ihnen. Wieder waren die Türen verschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: „Friede sei mit euch!“ 27 Dann sagte er zu Thomas: „Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an. Streck deine Hand aus und leg sie in die Wunde an meiner Seite. Sei nicht länger ungläubig, sondern komm zum Glauben!“ 28 Thomas antwortete: „Mein Herr und mein Gott!“ 29 Da sagte Jesus zu ihm: „Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!“
Dorothee Beckermann