Früher tat mir Thomas immer leid. Wenn im Kindergottesdienst erzählt wurde, wie er nicht dabei war, als alle anderen das Wunder erlebten. Wie er nicht dazugehörte, als der Auferstandene seinen Freunden erschien. Wie sein Glaube einfach nicht groß genug war. Der arme ungläubige Thomas.
Wenn ich heute seine Geschichte höre, gehen mir ganz andere Gedanken durch den Kopf. Thomas steht fest im Leben und nimmt sich selbst ernst. Er lässt sich nicht abspeisen mit Erfahrungen aus zweiter Hand und Offenbarungen, die anderen zuteilgeworden sind. Das Leid, die Verachtung, die Wunden der letzten Tage sind ihm noch zu deutlich vor Augen. Das lässt sich nicht schönreden, wegwischen, einfach so umdeuten. Thomas will berühren und berührt werden. Er will nicht theoretisch über Auferstehung philosophieren. Er will sie selbst erfahren.
Ich stelle mir vor, wie ich mich neben Thomas stelle. Täglich erlebe ich, wie zerbrechlich und bedroht das Leben ist. Was Menschen einander antun, hinterlässt immer Spuren. Was ich abends in den Nachrichten sehe, ist nicht die schöne neue Welt, in der es nur strahlende Sieger gibt, die den Tod schon überwunden haben. Es ist eine Welt mit Wunden und Narben, mit unschuldigen Opfern und unheilvollen Verstrickungen. Oft mehr Karfreitag als Sonntag nach Ostern. Denen, die versprechen, dass einfach alles gut wird, vertraue ich nicht. Ich will mit Thomas meinen Finger in die Wunde legen. Will nicht wegschauen, wenn Unrecht geschieht. Will mich nicht rausreden, wo es auf mein Handeln ankommt. Will nicht mitspielen, wenn die Regeln dem Leben nicht dienen.
Und ich will nicht nur zuschauen, wie andere ihren Glauben leben. Nicht nur Geschichten hören, die andere erzählen. Ich will selbst dem Auferstandenen begegnen. Ich will selbst spüren, wie aus den erlittenen Verletzungen die Kraft für den Neubeginn wachsen kann. Will selbst sehen, wie die Hoffnung immer wieder neu aufkeimt. Will erleben, wie Gottes Nähe alles verwandelt: mich selbst, meinen Blick auf die Welt und all das, was scheinbar fertig, abgestorben, aufgegeben und zerstört ist. Diese Kraft will ich fühlen in meinen Gedanken und in meinen Händen.
Mit dem Auferstandenen werde ich mich an den Tisch setzen und mich stärken mit Brot und Wein und Gottes Gegenwart. Gemeinsam mit Thomas neu Vertrauen schöpfen. Und dann erneuert, lebendig und kraftvoll aufstehen, aufbrechen und rausgehen. Osterspuren in der Welt entdecken und selbst hinterlassen, wo immer ich hingehe.
Johannes 20,19–29