Elterngedanken

Andacht zum 3. Sonntag nach Trinitatis
Ein besonderer Moment: Was geht einem jungen Mann durch den Kopf, der gerade Vater wird?
Bild: privat

Der Autor

Jakob Kampermann
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Jakob Kampermann

Was geht wohl einem jungen Mann durch den Kopf, der gerade Vater wird? Ich stelle mir vor, dass er sich sehr auf sein Kind freut. Dass er sich überlegt, wie es wohl aussehen wird. Er? Oder sie?

Und er überlegt, wie er und sein Kind wohl miteinander auskommen. Zum Glück wird ein Kind nicht gleich pubertär geboren. Aber: Schaffe ich das, mit diesem kleinen neuen Menschen umzugehen? Werde ich ihm die Geborgenheit und die Liebe vermitteln können, die ich ihm so gerne vermitteln möchte?

Ich stelle mir vor, dass er sich daran erinnert, wie seine Eltern ihn erzogen haben. Von Kindesbeinen an. So viel hat er seinen Eltern zu verdanken. Aber es gibt auch Dinge, die er anders machen wird. Zumindest will er sie anders machen. Ob das gelingt?

In so vielem gleicht er seinem Vater, denkt der junge Mann. Kleinigkeiten. Wie er die Augenbraue hochzieht. Oder wie er den Füller hält. Wie er seine Hände bewegt. Ohne dass er sich das bewusst abgeschaut und eingeübt hätte. Irgendwie ist das über die Jahre passiert. Wird er nun auch so ein Vater wie sein eigener Vater? Mit dessen Potentialen und dessen Begrenzungen? Wird er seinem Kind die gleichen Grenzen ziehen wollen, wie früher sein Vater bei ihm? Manches wird wohl einfach passieren. Aber ob er das dann wenigstens bemerkt? Nimmt er dann das Kind in sich wahr, das genau das, was ihn bei seinem Vater immer geärgert hat, nun in ihm selbst als Vater ärgert?

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dieses Sprichwort ist bei uns gebräuchlich: Wie der Vater, so der Sohn. Wie die Mutter, so die Tochter. Das gilt für Begabungen. Die eine Generation gibt der nächsten aber auch ihre Verletzungen weiter. Ohne dass es jemand merkt, ohne dass es jemand will. Es passiert einfach...

Ans Licht bringen, was da läuft, was da gelaufen ist, die verlorene Kinderseele wiederfinden, ihr eine Sprache geben, Wunden zum Verheilen bringen, das ist das täglich Brot vieler Seelsorgerinnen und Psychotherapeuten.

Die Eltern haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. Dieses Sprichwort war im Alten Israel gebräuchlich. Aber: So kann es nicht weitergehen, so soll es nicht weitergehen. Wenn es so weiterginge, wäre das ein ewiger Kreislauf, ein Teufelskreis.

So soll es nicht endlos weitergehen, sagt Hesekiel. Jede, jeder soll für sich selbst gerade stehen. So wahr ich lebe, spricht Gott: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel... Kehrt um und kehrt euch ab von all euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt... Macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist... Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

Umkehren und leben. Umkehren, dazu muss ich mir erst einmal darüber klar werden, wo ich mich befinde, auf welchem Weg. Welche Konsequenzen hat er, wohin führt er mich? Wo komme ich her, was treibt mich? Was bringt mich dazu, diesen Weg einzuschlagen - etwa beim Umgang mit Kindern und Enkeln? Umkehren und leben, das heißt: sich nicht einfach treiben lassen von dem, wie ich geprägt bin oder wie ich es irgendwann einmal mitbekommen habe: von dem her, was üblich ist; von meinen Verletzungen, von meinen Zwängen, von meinen Wünschen, von meinen Defiziten und meiner Schuld. Umkehren und leben, das bedeutet sich nicht treiben lassen, sondern gehen. Es heißt selber gehen und darin wachsen, dass wir selbst verantwortlich sind. Umkehren und leben, das bedeutet letztendlich auch: nicht auf andere abschieben oder sie ausbaden lassen, was bei mir und durch mich offen bleibt.

Was wird aus unseren Kindern und Enkeln werden? Was wir heute tun und entscheiden und wie wir leben, das hat manchmal erst später Konsequenzen. Die Brennstäbe aus den Kernkraftwerken. Das Kohlendioxid, das unsere Autos ausstoßen. Die Kredite, die wir heute aufnehmen... Das wirkt sich erst in vielen Jahrzehnten aus. Damit die nachfolgende Generation uns nicht später vorwirft, wir hätten ihnen eine schöne Suppe eingebrockt und sie müssten sie auslöffeln, ist es gut, wenn wir das heute tun: umkehren und leben.

Vor Unglück und Fehltritten können wir unsere Kinder und Enkel nicht bewahren, so gerne wir es möchten. Aber wir können sie aufwachsen lassen in einer Atmosphäre, in der sie sich geborgen und angenommen fühlen. Kinder lernen davon, wie Erwachsene mit dem umgehen, was sie bewegt und auch belastet. Wie denken die Eltern, wie denken Großeltern über Entscheidungen, Fehlentscheidungen und Begrenzungen nach? Es ist für Kinder wichtig, mitzubekommen, dass die Erwachsenen darüber sprechen - und dass sie immer wieder umkehren und leben.

Wir können einen Raum schaffen, in der Familie, in der Gemeinde, in der Gesellschaft, in dem sie merken: Versäumnisse und Schuld sind kein Tabu. Versäumnisse und Schuld - zwischen den Generationen, zwischen Eltern und Kindern - können erinnert, ausgesprochen, reflektiert werden. Dann werden auch die Kinder neu anfangen können, selbst wenn sie einmal fallen. Umkehren und leben.

Der junge Mann erinnert sich: Er hat noch kleine Geschwister, die irgendwie anders erzogen wurden als er. Man könnte auch sagen, seine Eltern haben aus ihrer eigenen Erziehung gelernt. Hesekiel schreibt: Werft von euch alle eure Übertretungen... und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. ... Kehrt um, so werdet ihr leben.

Amen.

Der Text zur Andacht,
Hesekiel 18,1–4.21–24.30–32
Und des Herrn Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben. Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern wegen seines Treubruchs und seiner Sünde, die er getan hat, soll er sterben. Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der Herr. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tod dessen, der sterben müsste, spricht Gott der Herr. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.
Jakob Kampermann