Bis vor kurzem habe ich kaum etwas über die Ukraine gewusst. Es beschämt mich, aber erst durch den Krieg habe ich mich mehr mit dem Land beschäftigt. Irgendwo zwischen uns und Russland ist da dieser riesige Staat, am Rand von Europa – weit weg eben: das war ungefähr mein Bild und Gefühl. Neben der aktuellen bedrückenden Berichterstattung ist jetzt in den Medien auch viel über das Land, seine Leute und seine Geschichte zu erfahren.
Mich berühren besonders Bilder des Alltags aus friedlichen Zeiten: Tischler, die Möbel bauen. Grafiker in einer Werbeagentur. Ärztinnen, Väter, Malerinnen, spielende Kinder: Menschen, die leben wollen. Ihr Land aufbauen und gestalten. Feiern, Reisen, Spielen, Lachen, Fußball gucken und Würstchen grillen. Ihre russischen Verwandten treffen, im Schwarzen Meer baden und sich nicht entscheiden müssen, ob man Europa oder Russland näher ist oder ob das überhaupt ein Gegensatz sein muss.
Und jetzt ist der Tod gekommen über dieses Land voller Lebenslust. Das Böse nimmt Gestalt an, mal wieder, in Form von Raketen und Granaten, es will Land rauben, Leben nehmen und Machtgier stillen. Opfer sind die Menschen, in der Ukraine und auch in Russland, ob sie Uniformen tragen oder Stillkleider, ob sie an Unterernährung sterben oder im Kugelhagel. In der Ukraine stirbt ein Volk, in Russland die Freiheit. Es gewinnen Tod und Teufel.
Wo bist du jetzt, Jesus? Diese Frage geht mir wie vielen anderen durch den Kopf. Ich lese die Geschichte von Lazarus (Johannes 11) und wundere mich: Sein guter Freund ist krank, liegt im Sterben – und Jesus lässt sich alle Zeit der Welt! Er kommt nicht rechtzeitig, um seinen Tod zu verhindern. Es gehört zu den Rätseln des Glaubens, dass Gott zu seiner eigenen Zeit eingreift oder auch nicht, dass er manches geschehen lässt, das wir kaum aushalten. Und wir nur beten können: “Herr, siehe, der den du lieb hast, liegt krank.”
Doch dann, Lazarus liegt schon vier Tage im Grab, geht Jesus hin. Er weckt ihn auf, nicht vom Schlaf, sondern vom Tod zum Leben. Keine Krankheit, keine böse Macht ist diesem Mann gewachsen. “Ich bin die Auferstehung und das Leben”: Seinen Worten folgen Taten, es geht nicht um Beschwichtigung und hohle Formeln, wie bei vielen falschen Friedensboten dieser Tage. Jesus schenkt neues Leben, ewige Freude, die weder Tod noch Teufel überwinden können.
Noch dröhnt der Kriegslärm, der Tod gewinnt Schlacht um Schlacht. Doch mitten im Kanonendonner erhebt sie sich, die Stimme des Lebens. Noch kaum hörbar, aber unwiderstehlich. Jesus kennt die Gewalt und den Tod, hat beides am eigenen Leib erfahren. “Ich bin die Auferstehung und das Leben:” Das ruft er uns nicht am sonnigen Sonntagnachmittag im Park zu, sondern auf den Schlachtfeldern von Mariupol und Odessa, in der zerbombten Geburtsklinik und in den Luftschutzbunkern von Kiew.
Ich bete, dass die Hartherzigen in Moskau umkehren von ihrem Weg, der so viel Tod und Leid mit sich bringt. Ich hoffe für das ukrainische Volk, dass es wieder Frieden und Freiheit erfährt. Und ich wünsche der Ukraine, dass sie aufersteht, dass ihre Menschen das Leben in Fülle haben, das Christus verspricht. Das sogar über den Tod hinausreicht. Es mag dauern, aber Jesus kann es tun.
Amen.
Johannes 11