Die aus Russland stammende Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa hat sich klar für westliche Waffenlieferungen an die von Russland angegriffene Ukraine ausgesprochen. Die russische Armee begehe unvorstellbare Verbrechen auch gegen Frauen und Kinder, sagte die 74-jährige Historikerin und Germanistin am Freitagabend beim Hanns-Lilje-Forum in Hannover: „Wir haben es hier mit dem Bösen in absolut reiner Form zu tun, das bereit ist, Menschen einfach zu vernichten, wenn sie sich nicht seinem Willen fügen.“
Es müsse alles getan werden muss, „um das Böse zu stoppen“, betonte die im deutschen Exil lebende Menschenrechtlerin vor rund 250 Besucherinnen und Besuchern bei der Veranstaltung der evangelischen Hanns-Lilje-Stiftung in der Marktkirche. „Und das kommt nicht aus irgendwelchen Verhandlungen. Mit diesem Bösen kann man keine Verhandlungen führen.“
Scherbakowa ist Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die 2021 von Obersten Gericht in Russland aufgelöst und 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. In Hannover berichtete sie, wie „Memorial“ 1989 begann, die Verbrechen des Stalinismus aufzuarbeiten. Für Millionen von Todesopfern habe es damals keinerlei Gedenken gegeben. „Doch die Aufarbeitung war viel schwieriger, als wir uns das vorgestellt haben.“ Die Idee der Freiheit sei schon bald ins Hintertreffen geraten gegenüber dem Nationalpatriotismus des russischen Präsidenten Putin.
Auch der evangelische Landesbischof Ralf Meister aus Hannover befürwortete Waffenlieferungen an die Ukraine. „In besonderen Situationen, wenn Menschen unmittelbar Gewalt angetan wird, kann man ihnen zur rechtserhaltenden Gewalt auch Waffen geben“, sagte er auf dem Podium. Das oberste Ziel müsse aber immer sein, Frieden zu ermöglichen. Die evangelische Friedensethik stecke an dieser Stelle in einem Zwiespalt, räumte er ein. Der Bischof hatte im Frühjahr die ukrainische Stadt Odessa besucht.
Die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen bei Celle, Elke Gryglewski, warnte vor einer Ausweitung von Waffenlieferungen durch den Ukraine-Krieg. „Es macht mir Sorgen, dass im Windschatten der nötigen Waffenlieferungen an die Ukraine die Bundesrepublik als Waffenexporteur wieder auf einen der ersten Plätze gerutscht ist“, sagte sie. Waffen würden dann zugleich auch in jede Menge anderer Kriegsgebiete in der Welt geliefert. Dort würden dann mit deutschen Waffen völlig andere Konflikte ausgetragen. „Ich wünsche mir einen differenzierten Blick, dass genau so etwas nicht passiert.“
Interview zur Erinnerungskultur
Die Menschenrechtsorganisation Memorial mahnt zu einem verständnis- und verantwortungsvollen Umgang mit den Erinnerungen unterschiedlichster Gesellschaften. Inwieweit bereichert die bewusste Auseinandersetzung mit Tatsachen sowie eigenen und fremden Einschätzungen das Geschichtsbewusstsein?
Paul: Memorial leistet einen großartigen Beitrag für die Aufarbeitung der Schrecken des vergangenen Jahrhunderts, sowie der Verteidigung der Menschenrechte heute. In der Erinnerungs- und Gedenkarbeit werden Geschichten erzählt. Geschichten von realen menschlichen Schicksalen. Die Vergangenheit wird dadurch sehr lebendig und fassbar. Wichtig ist der respektvolle Umgang. Wir erleben es, dass Menschen die Schicksale ihrer Vorfahren erforschen und dabei die häufig schmerzvollen Antworten eben als diese begreifen. Antworten auf lebenslanges Fragen. Das sind hochemotionale Momente. Jede:r der/die mal in einer Gedenkstätte war, wird sich an ein bedrückendes Gefühl und mehr Fragen als Antworten erinnern. So etwas verbindet.
Im Dialog zwischen diesen Erfahrungen unterschiedlicher Menschen lassen sich die Emotionen verbinden, Erlebtes teilen. Verständigung auf Grundlage der geschichtlichen Ereignisse. Die Verständigung darauf, dass die Schrecken der Vergangenheit im Dialog miteinander keinerlei Rechtfertigung erfahren können.
Wenn wir die Gesellschaft betrachten, ist das lebenslange Fragen ein Element was alle betrifft. Die Antworten finden sich zum Teil in der Erinnerungs- und Gedenkarbeit.
Erinnerungen bestimmen mit, wer wir sind. Kollektives und individuelles Erinnern stiftet also Identität und gibt Orientierung. Dennoch ist beispielsweise die Geschichtspolitik – auch abseits des Ukraine-Kriegs – heftig umstritten. Wie wichtig ist es dennoch, die Kommunikation zwischen Gegenwart und Vergangenheit nicht ruhen zu lassen?
Paul: Es gibt diesen Satz von Primo Levi: „It happened, therefore it can happen again: this is the core of what we have to say. It can happen, and it can happen everywhere“. Er gibt eine Idee davon, was es heißt die Geschichte ernst zu nehmen und daraus zu lernen. Das ermöglicht es uns, die Menschen um uns herum zu verstehen und ihre Schicksale nicht anhand oberflächlicher Eigenschaften zu bewerten. Wenn wir verstehen, welche Geschichten wir mitbringen, können wir die Zukunft besser miteinander gestalten.
Ein Beispiel dabei ist die Arbeit von Memorial, die unter anderem die stalinistischen Verbrechen bearbeitet. Das ist relevant, um zu verstehen, warum es so viele demokratische Bestrebungen in Ost-Mitteleuropa gibt. Um nie wieder unter einer Schreckensherrschaft leiden zu müssen. Eine mangelnde Aufklärung der Vergangenheit führt hingegen zur sehr einfachen Instrumentalisierungen und Heroisierungen. Daraus werden krude Legitimationen für das heutige Handeln konstruiert. Dagegen schützt eine ehrliche, transparente und möglicherweise auch schmerzhafte Aufarbeitung. Es ist immerhin häufig eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.
Das alles dient dazu, dass wir als Gesellschaft widerstandsfähiger gegenüber Versuchen werden, zu spalten und die Geschichte zu instrumentalisieren.
Welche Formen der Erinnerungskultur hat die Landeskirche Hannovers entwickelt, um das aktive Erinnern in den Kirchenkreisen, Kirchengemeinden und unter engagierten Christen anzuregen und zu fördern?
Paul: Mit den Friedensorten der Landeskirche wie der Gedenkstätte Lager Sandbostel, der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld, dem Anne-Frank Haus Oldau, dem Antikriegshaus Sievershausen und weiteren werden Orte unterstützt und vor allem Ressourcen geschaffen, um eine lebendige Erinnerungs- und Gedenkkultur zu ermöglichen. Die Gemeinden, Kirchenkreise und Individuen werden angesprochen, eingeladen und können die Angebote vor Ort nutzen, um das Vergangene wahrzunehmen um das heutige Miteinander besser zu gestalten. Wir haben die Themen Flucht und Migration, Gedenkstättenarbeit und Arbeitsfelder zum gesellschaftlichen Zusammenhalt vertreten. Mitunter arbeiten diese Orte schon lange mit Memorial und anderen Gedenk- und Dokumentationsstätten zusammen.
Die Landessynode hat mit ihrem Beschluss, diese Friedensorte zu fördern, ein klares Signal für eine weitreichende Erinnerungs- und Gedenkkultur sowie ein respektvolles Miteinander geschaffen. Die historisch-politische Bildung fördert das Demokratieverständnis und ermöglicht es verschiedene Altersgruppen miteinander in Kontakt treten zu lassen.
Alles im Sinne des Dreiklangs: Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung.
Der Evangelische Kirchentag, der gerade in Nürnberg zu Ende gegangen ist und 2025 in Hannover stattfindet, ist mittlerweile alles andere als eine reine Glaubensveranstaltung. Gesellschaftspolitisches nimmt großen Raum ein, auch die Erinnerungskultur soll Thema sein. Was ist zum Kirchentag in Hannover geplant?
Paul: Wir arbeiten daran, dass wir diesem großen Raum mit den Friedensorten und weiteren Partnern gerecht werden. Neben der Vorstellung der Arbeit der Orte werden auch Netzwerke und Initiativen ihren Platz finden. Wir hoffen darauf, dieses breite haupt- wie ehrenamtliche Engagement gebührend darstellen zu können. Es werden sich sicherlich eine Vielzahl von Möglichkeiten und Veranstaltungen ergeben über die Themen von heute mit dem respektvollen erinnern an gestern in Berührung zu kommen.
Es wartet viel Arbeit auf uns, doch ich bin zuversichtlich, dass wir Angebote schaffen können, die Menschen jeden Alters erreichen und dabei helfen über eine respektvolle, nachhaltige und zivilgesellschaftliche Zukunft zu sprechen.
Interview: Tanja Niestroj/EMA