Startseite Archiv Tagesthema vom 31. August 2017

"Mir stockt jedes Mal der Atem"

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Pädagogen diskutieren in Loccum schwierigen Umgang mit Antisemitismus an Schulen

Den Ausdruck "Du Jude!" hat Janik Hinrichs auf dem Schulhof schon oft mit angehört. "Vor allem in den Pausen", erzählt der 18-jährige Berufsschüler aus der Krummhörn in Ostfriesland in der Evangelischen Akademie Loccum bei Nienburg. "Du Jude!" bedeutet als Schimpfwort soviel wie "Du Opfer!" Vor allem jüngere Schüler in den unteren Klassen redeten so. "Gerade solche, die noch nie richtig darüber nachgedacht haben." Harmlose Jugendsprache oder schon handfester Antisemitismus? Und was tun? Darüber haben rund 50 Teilnehmer aus Schule, Bildung und Wissenschaft bei einer Loccumer Tagung beraten, die am Mittwoch zu Ende ging.

Stets dabei im Hintergrund: Der Fall eines jüdischen Schülers aus Berlin-Friedenau, den seine Eltern im Frühjahr von der Schule nahmen, nachdem er von muslimischen Mitschülern beleidigt und körperlich angegriffen worden war. Die Schule, die den offiziellen Titel "Schule ohne Rassismus" trug, hatte den Eltern mitgeteilt, die Lehrer könnten die Sicherheit ihres Sohnes nicht mehr garantieren, wie die Sozialwissenschaftlerin Julia Bernstein aus Frankfurt/Main in Loccum berichtete. Generell fühlten sich viele Lehrer überfordert mit dem Thema.

Mit dem Zuzug vieler Juden aus Osteuropa seit den 1990er Jahren habe auch die schon überwunden geglaubte Judenfeindlichkeit in Deutschland wieder zugenommen, erläuterte Michael Fürst vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. "Und wir müssen uns überlegen, wo führt das hin?" Rund 250.000 Juden leben nach seinen Angaben derzeit wieder in Deutschland - bis 1989 waren es gerade einmal 28.000. "Wir sehen auf einmal wieder Juden auf der Straße, die sich erkennbar machen." 

Allerdings stellte der streitbare Verbandsvorsitzende gleich zum Auftakt der Tagung eine provozierende These in den Raum: Wenn ein Schüler gedankenlos eine Hakenkreuz auf den Tisch kritzele, müsse er deswegen nicht gleich ein hartgesottener Antisemit sein. "Ich wehre mich dagegen, jedem zu unterstellen, er sei Antisemit." Kritiker müssten vorsichtig mit solchen Zuschreibungen umgehen. Es komme immer auf die Situation an.

Bild: fotolia.com

Das stieß auf den entschiedenen Protest der aus Israel stammenden Professorin Bernstein. Sie war beteiligt an einer Expertise für den Bericht des vom Bundestag eingesetzen  "Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus". "Wir unterschätzen den Einfluss der Sprache, die unser Denken konstruiert", betonte sie. Judenfeindliche Begriffe aus der NS-Zeit blieben belastet und müssten deshalb sorgfältig reflektiert werden. 

Sprache und Symbole prägen die Menschen. Als in einmal in einem voll besetzten Bus gesessen habe und jemand wegen der Enge und der schlechten Luft ausrief "Das ist ja hier zum Vergasen", sei sie als Jüdin zusammengezuckt und habe eine Woche lang darüber nachgegrübelt, erzählte die Wissenschaftlerin.

Auch der Emder Gymnasiallehrer Kai Gembler stört sich an solchen achtlos hingeworfen Begriffen. "Mir stockt jedes Mal der Atem, wenn ich höre: Du Jude!", sagte er. "Ich würde das auf jeden Fall thematisieren, gerade deshalb, weil es scheinbar ohne Bedeutung ist." Der antisemitische Tabubruch sei inzwischen vom rechten Rand in die Mitte der Gesellschaft gerückt. 

Was aber können Pädagogen konkret gegen Antisemitismus tun? Jeder Schüler solle mindestens einmal in seiner Schullaufbahn eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus besuchen, schlug Michael Fürst vor. Das Problem seien dabei allerdings oft muslimische Kinder. "Die sagen: Was haben wir damit zu tun?" Für sie dürfe ein solcher Besuch nicht zu einer Art Klassenfahrt werden. 

Der Emder Berufsschullehrer Gero Conring hat sich in einem Projekt auf die Spuren der letzten im Zweiten Weltkrieg verschleppten ostfriesischen Juden geheftet. In Archiven im polnischen Lodz sowie in Aurich und Emden suchten er und seine Schüler wie Janik Hinrichs nach Lebenszeugnissen der Deportierten und stießen etwa auf Postkarten. Conring ist überzeugt: "Wenn ich es auf das Schicksal der Einzelnen herunterbreche, habe ich eher die Chance, Schüler zu begeistern, als wenn ich mit Ideologie komme."

Michael Grau (epd)
Das Kloster Loccum. Bild: Jens Schulze

Auch wenn sich das Verhältnis der christlichen Kirchen zum Judentum in den letzten Jahrzehnten immer stärker zu einem respektvollen Dialog auf Augenhöhe entwickelt hat, ist Antisemitismus in der Gesellschaft immer wieder ein Thema. Darum unterstützt das Haus kirchlicher Dienste Multiplikatoren wie z.B. PfarrerInnen und ReligionslehrerInnen mit verschiedenen Angeboten und Materialien. Dazu gehören u.a. ein Fonds "Kirche und Judentum" der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Der Fonds „Kirche und Judentum“ der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers soll dazu beitragen, religionspädagogische oder kirchengemeindliche Aktivitäten und Projekte für Menschen allen Alters zu unterstützen, die zu einem respektvollen Verhältnis zwischen Christen und Juden beitragen.

Das Projekt „Vielfalt jüdischen Lebens  - Eine Begegnung in der Schule“ ist ein Angebot für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler evangelischen und katholischen Unterrichts der 8.-12. Klassen in allen Schulformen. Ziel des Projektes ist es, verschiedene Aspekte jüdischen Lebens in der Begegnung sichtbar zu machen und Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit zu direkten Fragen und Gesprächen zu geben.

"Fragen gemeinsam angehen"

"Wie sieht eine gute pädagogische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus aus? Ich hatte Gelegenheit, drei Tage lang engagierten und qualifizierten Expertinnen und Experten zuzuhören. Für mich sind folgende Aspekte besonders bedeutsam gewesen:

Es gibt Null-Toleranz-Linien, die unbedingt einzuhalten sind, so Sanem Kleff (Netzwerk Schulen ohne Rassismus/Schulen mit Courage). Dazu gehört: Antisemitismus muss erst einmal als solcher erkannt werden, Sprüche und Diskriminierungen dürfen nicht verharmlost werden. Betroffene benötigen eine offen sichtbare Unterstützung durch die Umwelt; dies fehlt viel zu häufig. 

In der Pädagogik haben wir es vor allem mit Kindern und Jugendlichen in heterogenen Lerngruppen zu tun. Viele nichtjüdische Jugendliche haben selbst Diskriminierungserfahrungen machen müssen. Hier helfen nur Ansätze, die diesen Erfahrungen Raum geben. Mit den jungen Leuten ist zu überlegen, wie ein Zusammenleben an der Schule, im Viertel und in der Gesellschaft aussieht, das Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen in allen ihren Formen nicht zulässt. Die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den monotheistischen Religionen und biographische Zugänge können die Empathie mit dem jeweils anderen fördern. Die Frage danach, wer „besonders antisemitisch“ ist, hilft dagegen nicht weiter, betonten Türkan Kanbicak (Fritz Bauer Institut) und Deborah Krieg (Bildungsstätte Anne Frank Frankfurt).

Wie es gelingen kann, die jüdische Perspektive besser wahrzunehmen, blieb auf der Tagung allerdings offen. An vielen Schulen gibt es nur ganz wenige jüdische Schülerinnen und Schüler. Viele geben sich aufgrund zu Recht befürchteter öffentlicher Angriffe nicht zu erkennen. Kiana Ghaffarizad (Amadeu Antonio Stiftung, Büro Hannover) betonte daher die Notwendigkeit von Empowerment für junge Jüdinnen und Juden und auch andere von Diskriminierung betroffene Gruppen.

Dass die evangelischen Kirchen sich in den vergangenen Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise von antijüdischen Stereotypen distanziert haben, ist zu begrüßen. Es fehlt aber an Konzepten, die Veränderungen auch in die Breite der Kirchenmitglieder zu tragen. Dominik Gautier und Britta Konz (Uni Oldenburg) sehen gute Chancen dafür im Ev. Religionsunterricht. Schülerinnen und Schüler können sich ihre religiöse Identität ohne Abwertung des Judentums formulieren.

Auf der Tagung verständigten sich Teilnehmende, die ganz unterschiedlichen Netzwerken angehören: Pädagogen aus der historisch-politischen Bildung, Personen aus dem christlich-jüdischen Dialog, Pädagoginnen, die sich mit dem Antisemitismus beschäftigen und Pädagogen aus der antirassistischen Arbeit sowie Lehrkräfte aller Schulformen und Sozialarbeiter. „Es ist nötig, dass wir die dringenden Fragen gemeinsam angehen und uns dabei nicht auseinanderdividieren lassen“, so ein Fazit in der Abschlussdiskussion."

Susanne Benzler, Studienleiterin Akademie Loccum
Susanne Benzler, Studienleiterin Akademie Loccum